Philosophie für Zwischendurch: Die Vernunft als Grundlage autonomen Handelns

Beate Rössler ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität von Amsterdam und forscht über die Frage, was selbstbestimmtes Leben und Handeln bedeutet. Im Rahmen ihrer Forschung hat sie festgestellt, dass globale Krisen unsere Lebensentscheidungen beeinflussen und dass viele Menschen gerade ihre Prioritäten und Überzeugungen überdenken. Diese globalen Krisen zwingen die Menschen, sich mit Dingen und Ideen auseinanderzusetzen, mit denen sie sich schon lange nicht mehr, bzw. noch nie auseinandergesetzt haben, wodurch die Autonomie beeinflusst wird. Autonomie bedeutet, dass wir über unsere Lebensweise nachdenken, und entscheiden, auf eine bestimmte Weise zu leben. In dieses Nachdenken werden nun die politischen Krisen mit einbezogen, und das scheinbare Selbstverständnis, in Westeuropa in relativer Sicherheit zu leben, wird zwangsläufig in Frage gestellt. Die Gewissheit, nicht mehr in relativer Sicherheit zu leben, kann die eigenen Lebensentscheidungen gravierend beeinflussen und Angst erzeugen. Und wer hat zurzeit keine Angst?  So wichtig es ist, in Krisensituationen Gefühle und Emotionen wie Angst, Verzweiflung oder Trauer zuzulassen, so wichtig ist es aber auch, zu lernen, damit umzugehen, diese Gefühle nicht daran hindern, darüber nachzudenken, wie man in der gegebenen Situation weiterleben will. Autonomie bedeutet nicht, Gefühle auszublenden, aber die Gefühle sollten nicht die Grundlage für Lebensentscheidungen sein. Letztendlich ist es die Fähigkeit zur Vernunft, die helfen kann, in emotional schwierigen oder ausweglosen Situationen autonome Entscheidungen zu treffen. Autonomie lebt man auch nicht für sich allein, sondern mit anderen gemeinsam.  Für die vielen Flüchtlinge, für die der westliche oder demokratische Autonomiebegriff noch nie gegolten hat, kann der zugegebenermaßen sehr eingeschränkte Autonomiebegriff zum Beispiel die freiwillige Teilnahme an einem Deutschkurs bedeuten, um sich und den Kindern den Aufenthalt in Deutschland zu erleichtern.  Für uns, die wir im Westen leben, kann karitatives oder soziales Engagement eine Möglichkeit sein, nicht nur zu helfen, sondern auch die eigenen Ängste zu kompensieren. Für alle, die das Privileg haben, in einer liberalen Demokratie mehr oder weniger selbstbestimmt zu leben, bedeutet Autonomie nicht nur Freiheit, sondern vor allem auch Verantwortung. Autonomie bedeutet einen verantwortungsvollen und rationalen Umgang mit den Krisen und in den Krisen. Dies fängt mit einer bewussten umweltschonenden und tiergerechten Ernährung an, und hört bei der Frage, in welcher Demokratie wir leben wollen und ob wir mehr oder weniger militarisiert sein sollen, nicht auf. In diesem Sinn ist der Versuch, vernünftig zu handeln, ein lebenslanger Prozess.

15. April 2022