Spätestens seit der Aufklärung werden Selbstbestimmung, Vernunft und der freie Wille als wichtige Voraussetzungen für ein zufriedenes, glückliches Leben genannt. Doch was genau bedeutet das? Wie können wir trotz äußerer Einflüsse und manchmal auch widriger Umstände unser Leben so gestalten, dass es uns nicht einfach nur zustößt, dass wir nicht gelebt werden, an Stelle selbst zu leben.
Unsere Würde und unsere Zufriedenheit hängen von einem selbstbestimmten und nicht von einem fremdbestimmten Leben ab. Wie können wir unser Leben beeinflussen, so dass wir sagen können: „Es ist gut.“? In der kleinen Schrift „wie wollen wir leben?“ versucht der Schweizer Philosoph Peter Bieri, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben ist in erster Linie die Selbsterkenntnis, denn ohne sich selbst zu erkennen, kann man auch nicht über sich selbst bestimmen. Selbsterkenntnis gibt es aber nicht ohne Selbstreflexion, nicht ohne Nachdenken über sich selbst.
Wenn wir wissen wollen, was unsere bestimmenden Wünsche sind, ist es nötig, sich selbst wie einem Fremden gegenüberzutreten, sich selbst mit Distanz und sein Tun von außen zu betrachten. Es ist nötig, zu hinterfragen, warum man bestimmte Dinge einfach tut. Bei einer kritischen Selbsthinterfragung wird uns vielleicht klar, dass wir ein anderes Leben als das bisher geführte, möchten. Die Suche nach der Selbsterkenntnis bleibt jedoch nicht folgenlos. Je mehr wir uns selbst erkennen, umso mehr verstehen wir die eigene Lebensgeschichte und können Wünsche und Bedürfnisse kanalisieren. Selbsterkenntnis ist verbunden mit dem Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit und der Selbstachtung. Man möchte das Leben nicht mehr mit Täuschungen und Selbstbetrug verbringen, man möchte nicht mehr sich selbst und anderen etwas vormachen. Man kann sich nicht mehr selbst achten, wenn man sich nicht der Wahrheit stellt, auch wenn diese unbequem ist. Es kann sehr befreiend sein, wenn man anderen und vor allem sich selbst nichts mehr vormachen oder beweisen muss. Man kann zum Beispiel eingestehen, dass man eine Fähigkeit, die man gerne hätte, wie etwa künstlerisches oder musikalisches Talent, einfach nicht hat. Trotzdem kann man immer wieder probieren, kreativ zu sein, aber man muss dieses Probieren nicht verbissen ernst nehmen, sondern kann es genießen.
Selbsterkenntnis und Selbstachtung sind die Fähigkeit, zu sich zu stehen, wie man ist und sich nicht ständig mit anderen zu vergleichen. Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung für das Ideal des selbstbestimmten Lebens. Wenn es eine Diskrepanz gibt zwischen Erleben und Wollen, wenn man gegen besseres Wissen handelt, erlebt man das als inneren Zwang und Mangel an Selbstbestimmung. Dies erfahren wir als innere Zerrissenheit, die auch Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann. Die Selbsterkenntnis zielt darauf, diese Zerrissenheit und ihre Gründe zu analysieren und dadurch diesen inneren Zwang zu beseitigen. Selbsterkenntnis verhilft auch dazu, sich mit unguten Erinnerungen auseinanderzusetzen und diese positiv zu verarbeiten. Dadurch, dass wir verstehen, warum diese Erinnerungen Macht auf uns ausüben, dass es im späteren Leben nicht gelungen ist, diese zur Ruhe kommen zu lassen, gelingt es jetzt, befreit in die Zukunft zu schauen. Mit der Zeit werden diese Erinnerungen verblassen und bedeutungslos für unser jetziges Leben sein. Sich selbst zu kennen heißt aber auch, unterscheiden zu können, wie der Andere ist und wie man ihn gerne hätte und auch damit leben zu können. Es bedeutet, die eigenen Projektionen zu durchschauen. Ein Mittel, um zur Selbsterkenntnis ist das Schreiben, sowohl das schriftliche Abwägen von Problemen und deren Lösungen als auch jede Art erzählerischen Schreibens und das damit verbundene Lesen. Viele literarische Werke sind durch die Auseinandersetzung des Dichters mit sich selbst entstanden. Auch wenn es nicht jeder zum Bestsellerautor schafft, so kann doch jeder zum Autor der eigenen Lebensgeschichte werden.
Von Helga Ranis