In den Traditionen der philosophischen und theologischen Ethik sowie bei den Weltreligionen spielen verschiedene Formen des Verzichts (z. B. Fastenzeit, Verzicht auf Schweinefleisch und Alkohol) eine erhebliche Rolle. Sind dies einerseits religiöse Vorgaben, an die man sich als gläubiger Mensch halten „muss“, so gibt es andererseits doch auch sehr viele säkularisierte Menschen, die sich freiwillig dem Verzicht unterziehen. Dieser Verzicht ist somit eine selbstauferlegte und nicht religiös vorgegebene Einschränkung. Der Verzicht entspringt einem Willensakt, hat eine anthropologische Bedeutung und ist, da er freiwillig erfolgt, nur einem verantwortlichen mündigen Menschen möglich. Die Wurzeln finden sich bereits in der griechischen Antike unter dem Begriff der „Askese“, was wörtlich ein Üben und Einüben, das nicht einem verringerten, sondern gesteigerten Menschsein dient, bedeutet. Die Askese ist ein Element der Philosophie als Lebenskunst, deren Ziel ein zur Meisterschaft gesteigertes Können ist und das sich nicht mit dem bloßen Genießen zufriedengibt. Vielmehr ist sie die Voraussetzung, um die Eudaimonia, die höchste Glückseligkeit, zu erlangen. In diesem Sinne ist sie lebensnotwendig. Um diese Askese leben zu können, bedarf es eines hohen Maßes an Besonnenheit. Diese wiederum fordert nicht, alle spontanen Neigungen zu unterdrücken und sich von der Welt abzuwenden, sondern die Hybris (das leichtfertige Vertrauen in die eigenen Kräfte) und die Pleonexie (die nie zufriedene Habsucht, Ehrsucht und Herrschsucht) zu überwinden. In diesem Sinne ist Askese nicht nur der Verzicht auf bestimmte Nahrungs-oder Genussmittel, sondern sie hilft auch, die eigene Persönlichkeit nicht zu überschätzen. In der Philosophie, in Platons Hauptwerk „Politeia“ (der Staat) hat die Besonnenheit nicht nur eine persönliche, sondern auch eine politische Bedeutung. Als Mäßigung der Begierden soll sie sowohl bei den einzelnen Bürgern als auch bei der Polis dem Besseren zur Herrschaft über das Schlechte verhelfen können und die Voraussetzung für die Eudaimonia, die Glückseligkeit ist. Aus diesem Grund soll nach Platon auch die Führungselite, um nicht in Interessenkonflikte zu geraten, auf eine eigene Familie und persönliches Eigentum verzichten. Nach Aristoteles kommt der Tugend der Besonnenheit ebenfalls nicht nur eine private, sondern auch politische Bedeutung zu: Gemeinwesen können nur dann stabil bleiben, wenn deren Bürger in Bezug auf Lust und Unlust das rechte Maß finden. Besonnene Bürger seien bereit, bei der sinnlichen und emotionalen Seite ihres Lebens sich weder dem Zuviel der Zügellosigkeit noch dem Zuwenig der Gefühllosigkeit hinzugeben. Allerdings zeigen die heutigen Verhältnisse augenfällig, dass die Gefahren der Hybris und der Pleonexie in der modernen Gesellschaft aktueller sind denn je. Will die moderne Gesellschaft menschenwürdig überleben, benötigt sie ein erhebliches Maß an einer persönlichen aber auch wirtschaftlich-und gesellschaftspolitischen, nicht zuletzt an einer global wirksamen Besonnenheit. Die moderne Gesellschaft muss sich privat als auch politisch in der Tugend des Verzichts üben, um überleben zu können.   Von Helga Ranis.

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(Quelle: Otfried Höffe, FAZ vom 30.11.2020)