Philosophie für zwischendurch: Martin Buber über den Weg des Menschen

Martin Buber war ein österreichischer jüdischer Religionsphilosoph, der seine Kindheit in Lemberg, in der heutigen Ukraine verbrachte und der von 1924-1933 an der Universität Frankfurt am Main jüdische Religionslehre und Ethik lehrte. Zusammen mit Franz Rosenzweig übersetzte er die Hebräische Bibel, den Tanach, in ein für damalige Verhältnisse angemessenes modernes Deutsch. Buber ist auch bekannt für seine Arbeiten zum Chassidismus. Hierunter versteht man eine Erneuerungsbewegung des osteuropäischen Judentums, die im 18.Jahrhundert gegründet wurde. Im Chassidismus findet Buber das Bewegstsein in den Grundfragen menschlicher Existenz und Sinngebung des Lebens überhaupt. Eines der wichtigsten Werke Bubers ist „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ aus dem Jahr 1947. In diesem Werk beschreibt er, was aus seiner Sicht für das Leben der ostjüdischen Chassidim wesentlich war. Der Weg des Menschen beginnt mit der Erkenntnis, dass der Mensch sich vor Gott versteckt hat und das Gott ihn rufen muss. „Wo bist du, Adam?“. Diese biblische Frage richtet sich jedoch nicht nur an Adam, sondern an alle Menschen. Wenn Gott so fragt, will er nicht im wörtlichen Sinn wissen, wo der Mensch ist. Durch diese Frage möchte er vielmehr im Menschen etwas bewirken, was nur durch eine solche Frage bewirkt werden kann, vorausgesetzt, dass sie den Menschen trifft und dass der Mensch sich von ihr treffen, d.h. berühren lässt. Adam versteckt sich, um nicht Rechenschaft ablegen zu müssen, um der Verantwortung für sein Leben zu entgehen. Deshalb das Bekenntnis: „Ich habe mich versteckt“. Buber geht davon aus, dass sich jeder Mensch mehr oder weniger immer wieder in dieser Situation befindet, dass er seine Mitte verloren hat und dass er, um der Verantwortung für das gelebte Leben zu entgehen, sich immer mehr verstecken muss. Indem der Mensch versucht, sich vor Gott zu verstecken, versteckt er sich auch vor sich selbst, d.h., er macht sich selbst etwas vor. Mit der Frage: „Wo bist du?“ will Gott den Menschen aufwecken, er will ihm bewusst machen, in welche Verstrickungen er hineingeraten ist und will ihm einen Ausweg zeigen. Mit dem Bekenntnis, mit der Selbstbesinnung: „Ich habe mich versteckt“, beginnt der Weg des Menschen. Diese Selbstbesinnung ist kein einmaliges Ereignis, sondern der Mensch kann immer wieder in Situationen geraten, in denen er seine Mitte verloren hat und in denen er sich darauf besinnen soll, wie er wieder zu sich findet. Diese Selbstbesinnung ist immer wieder der Weg zu einem neuen Anfang. Durch diese Selbstbesinnung findet der Mensch den Weg, wohin ihn sein Herz zieht. Bubers Überlegungen gelten nicht nur für den Chassidismus, sondern die Frage nach dem Weg und nach dem Sinn gehört zu den Grundfragen menschlicher Existenz überhaupt. Buber will jeden Leser ansprechen, seinen eigenen Weg zu finden.

Helga Ranis studierte u.a. in Frankfurt und Zürich Theologie und Philosophie und arbeitet als freiberufliche Dozentin an der Volkshochschule in Frankfurt. Außerdem unterrichtet sie an einer Frankfurter Sprachenschule die Sprachen Deutsch als Fremdsprache, Hebräisch und Latein.  Außer ihren Studienfächern interessiert sie sich für Kunst, Musik und Literatur.

Mehr von Helga Ranis

Erwerbsarbeit und Demokratie

Der Unterschied von „ich“ und „wir“

Das Prinzip Hoffnung

Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

Die fünf Wege, Gott zu erkennen

Die Welt ist Geist

Trost der Philosophie

Die größte Tugend ist es, dem Weg zu folgen und nur diesem Weg

Über die Ausgeglichenheit der Seele

Alles fließt

Ich denke, also bin ich

Über das Geld

Existentialismus

Die Kraft der Hoffnung

Philosophische Gedanken über das Alter: “De senectute” von Marcus Tullius Cicero

John Stuart Mill: Vom Prinzip des größten Glücks

Selbstreflexion von Blaise Pascal: Was ist ein Mensch in der Unendlichkeit?

Tipps von Epiktet: Wie wir innerlich frei werden können

Wie wollen wir leben: Gedanken über ein gelingendes Leben

Philosophie der Herausforderung: Über das Sein

 

Fotonachweis: Martina Guthmann