„Keep your distance“- Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788 -1860) ist bekannt für seine teilweise äußerst bissigen Aphorismen und Lebensweisheiten. In einer seiner Schriften spricht er von einer Gesellschaft von Stachelschweinen, die sich im Winter aneinanderdrängen, um sich gegenseitig zu wärmen und sich vor dem Erfrieren zu schützen. Kamen sie sich jedoch zu nahe, so spürten sie schmerzhaft die gegenseitigen Stacheln, entfernten sie sich voneinander, so froren sie. Brachte sie das Bedürfnis der gegenseitigen Erwärmung wieder näher zusammen, so wurden sie durch die Stacheln wieder abgeschreckt. Sooft sie diesen Vorgang wiederholten, waren sie zwischen diesen beiden Übeln, übermäßige Nähe und übermäßige Distanz hin und her geworfen, bis sie endlich eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten miteinander aushalten konnten. Sie beherrschten nun die Balance zwischen Nähe und Distanz und konnten miteinander auskommen, ohne sich gegenseitig zu schaden. Was nun aber für die Stachelschweine gilt, soll auch für die Menschen gelten. Das Bedürfnis nach Gesellschaft, das aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen ist, treibt die Menschen zueinander. Ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften, so Schopenhauer, stoßen sie aber wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden und bei welcher ein Beisammensein entstehen kann, ist die Höflichkeit und die feine Sitte. Demjenigen, der sich nicht an diese Entfernung hält, dem Höflichkeit und Sitte fremd sind, ruft man in England „Keep your distance!“ zu. Vermöge dieser Distanz wird zwar das Bedürfnis nach gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. Man kann niemanden verletzen und wird selbst nicht verletzt, man kann niemanden gesundheitlich beeinträchtigen und wird selbst nicht beeinträchtigt. Wird der gebotene Abstand eingehalten, kann man sich nicht gegenseitig schaden, sondern nur nutzen. „Wer jedoch viel eigene innere Wärme hat“, so heißt es am Ende des Textes „und sich selbst genüge ist, bleibt aus eigenen Stücken lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen“. Wer genügend eigene innere Wärme hat, hat mit der „distance“ kein Problem. Dieser Text stammt aus dem Jahr 1850 und hat an Aktualität nicht verloren. „Keep your distance“ bedeutet, dass das Gebot der Höflichkeit und Sitte, der gegenseitigen Rücksichtnahme immer aktuell ist. Von Helga Ranis.

Quelle: Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, BdII, § 396.

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