„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Mit diesem Zitat endet das Buch von Camus mit dem gleichnamigen Titel „Der Mythos des Sisyphos“.  Die Geschichte von Sisyphos ist bekannt. Durch seinen Ungehorsam forderte er die Götter heraus und wurde deswegen von ihnen bestraft. Die Götter hatten ihn verurteilt, einen Felsblock unablässig den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel kraft seines eigenen Gewichtes, immer wieder herunterrollte. Sie meinten, es gäbe keine schlimmere Strafe, als unnütze und aussichtslose Arbeit. Sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen zu sollen, erscheint uns auf den ersten Blick absurd. In der Tat ist das Absurde das Zentralthema der Philosophie Camus´. Sisyphos müht sich ab, ohne sein Werk beenden zu können. Immer wieder rollt der Stein vom Gipfel des Berges hinunter in die niedere Welt, aus der er ihn wieder hoch auf den Gipfel wälzen muss. Dadurch dass er nicht an dieser unlösbaren Aufgabe verzweifelt, wird er zum Helden. Er ist seinem Schicksal überlegen und stärker als der Stein. Er weiß aber auch, dass er keinen Erfolg haben, dass der Stein immer wieder herunterrollen wird. Bestünde eine Hoffnung auf Erfolg, so hätte die von den Göttern verhängte Strafe keinen Sinn. Dies ist Sisyphos bewusst, insofern ist der Mythos einerseits tragisch.  Die Bewusstheit über die eigene elende Situation, die die Ursache der Qual sein sollte, ist aber gleichzeitig auch ein Sieg, ein Sieg des Sisyphos über sein Schicksal. Er kann sein Schicksal zwar nicht ändern, aber, es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann. Das heißt, es gibt kein Schicksal, das nicht angenommen werden kann. Diese Einsicht wiederum führt zu einer verborgenen Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm, sein Stein ist seine Sache, er sagt „ja“ zu seinem Schicksal und er sieht sich als Herr seiner Tage. Er gibt nicht auf, er bewältigt seine Aufgaben jeden Tag aufs Neue. Die Last des Sisyphos findet man jeden Tag wieder, vor allem in der modernen Arbeitswelt. Der Arbeiter von heute arbeitet sein Leben lang an den gleichen Aufgaben und sein Schicksal ist absurd, man spricht nicht umsonst von einer Sisyphosarbeit. Doch Sisyphos lehrt uns eine höhere Treue, die sich von den Göttern nicht beeindrucken lässt und Steine hebt. Da er an dieser Aufgabe nicht verzweifelt, sondern immer wieder von vorne anfängt, auch wenn er weiß, dass er keinen Erfolg hat, muss man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Er lässt sich weder vom Schicksal noch von den Göttern einschüchtern. Er trotzt ihnen und stellt sich den Herausforderungen, immer wieder aufs Neue. Die für Camus zentrale Frage, ob das Leben die Mühe, gelebt zu werden, lohnt oder nicht, wird am Beispiel des Sisyphos eindeutig bejaht. Das Leben lohnt sich auf jeden Fall, gelebt zu werden, auch wenn es noch so schwierig ist, auch wenn die äußeren Umstände eher auf das Gegenteil schließen lassen. Das ist das, was wir von Sisyphos lernen können. Von Helga Ranis

Albert Camus (1913-1960), der Mythos des Sisyphos

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