Medizinwanderungen: Auszeit in der Natur

Eine Quelle für Seelenausgleich und psychisches Wohlbefinden

 

Die kleine Schwester der Visionssuche

Eine „Medizinwanderung“ kann als Kurzformat einer Visionssuche aufgefasst werden. Medizinwanderungen werden heute von vielen Menschen in der Mitte ihres Lebens mehrfach durchgeführt – aus Gründen der Stressverminderung, um einer ausgewogenen „Work-Life-Balance“ willen, um eine Auszeit im ansonsten durch-getakteten Arbeits- und Freizeitgetümmel zu bekommen, um neue Visionen für den Beruf, die Partnerbeziehung, das Familienleben und den ganz persönlichen Lebenssinn zu erhalten und um grundsätzlich neue Kraft für das Leben zu schöpfen.

Mich erstaunt es immer wieder, welch starke Wirkung solch ein Tag in der Natur haben kann. So viele Menschen haben den Kontakt zur Natur völlig verloren. Wenn sie dann einen Tag lang oder selbst nur für einige Stunden ohne die sonst üblichen Ablenkungen wie etwa durch ihr Smartphone ganz alleine in einem schönen Waldstück unterwegs sind, kann bereits diese Erfahrung für sich schon sehr heilsam und ent-stressend sein. Stichwort „Waldbaden“. Viele Erwachsene werden dadurch womöglich unmittelbar an Kindheitserlebnisse erinnert, als sie mit ihren Eltern zu Spaziergängen und Wanderungen im Wald oder im Gebirge waren.

Eine Medizinwanderung hat darüber hinaus aber noch eine rituelle Absicht: nämlich eine vor der Ritualgruppe klar formulierte Intention, weshalb ein Teilnehmer anschließend allein und fastend in die Natur hinausgehen will. Dadurch hat dieses Jahrtausende alte Naturritual einen deutlichen Mehrwert und bekommt eine ungeahnte zusätzliche Tiefenwirkung im Vergleich zu einem bloßen Waldspaziergang. Denn psychische Themen, die reif sind, können durch die natürliche Umgebung und durch Fasten und Alleinsein, sowie durch die Beseitigung der sonst üblichen medialen Ablenkungsmöglichkeiten endlich ins Bewusstsein des Medizinwanderers hochkommen. Genau das kann neben der Auszeit in der Natur an sich zusätzlich sehr heilsam sein – wie eine Medizin für Körper, Geist und Seele. Daher der durchaus zutreffende Name „Medizin“-Wanderung für diese Art von Auszeit in der Natur. Das folgende Beispiel von Julia soll den Sinn einer Medizinwanderung näher erläutern.

 

Julia (51 Jahre, Name geändert): „Ich kann meinen Sohn nicht loslassen“

An einem Samstagmorgen um 9.00 Uhr trifft sich eine Gruppe von sieben Personen zur Medizinwanderung auf einem Parkplatz neben einem ausgedehnten Waldstück. Die beiden Leiter, ein Mann und eine Frau, führen die Gruppe anschließend in den Wald zu einer kleinen Lichtung. Im Kreis erzählen dann die fünf Frauen und zwei Männer vor allen ihr Anliegen, warum sie überhaupt zu dieser unmittelbar bevorstehenden Medizinwanderung gekommen sind und welche Antworten sie sich dabei „im Spiegel der Natur“ erhoffen.

 

Julia ist verheiratet und hat einen 23-jährigen Sohn. Dieser hat bereits eine Freundin und arbeitet nach der Mittleren Reife und einer dreijährigen Lehre als Elektriker schon seit einiger Zeit in einem Betrieb. Ihr Mann fährt täglich mit der S-Bahn zur Arbeit nach München, sie selbst ist halbtags als Arzthelferin tätig. Die Familie wohnt in einem eigenen Haus in einem Dorf westlich von München. Eigentlich hat Julia ein schönes Leben, alles scheint in bester Ordnung mit ihr und ihren beiden Männern zu sein – mit Ehemann und erwachsenem Sohn. Aber sie klammert und kann ihren Sohn, ihr einziges Kind, innerlich einfach nicht loslassen. Dieser will eigentlich schon seit einem Jahr ausziehen und mit seiner festen Freundin in einer eigenen Wohnung leben.

Die Schuldgefühle gegenüber seiner Mutter hielten ihn jedoch bis jetzt immer noch zurück. Denn Julia sagte ihrem Sohn immer wieder, dass sie dies noch nicht verkraften könne. Gleichzeitig weiß sie seit längerer Zeit, dass sie ihren Sohn damit unglücklich macht und dessen eigenes Leben blockiert, je länger sie ihn an seinem Auszug hindert. Was ist denn nur mit ihr los, dass sie ihren Sohn innerlich einfach nicht ziehen lassen kann – was doch eigentlich eine sehr natürliche Entwicklung wäre? Ihr Sohn steht ja bereits gut auf eigenen Füßen: Er ist finanziell unabhängig und psychisch sehr stabil. Dieser Konflikt zerrt schon seit mehreren Monaten an Julia. Sie erhofft sich heute Impulse für eine Lösung. Es ist ihr sehr peinlich, dass sie nach ihrer Erzählung in der Gruppe vor allen weinen muss. Nun bittet sie das Universum um Hilfe – um heilende Eingebungen bei der Medizinwanderung.

Nachdem alle Teilnehmer ihr Anliegen vorgebracht haben, weisen die beiden Leiter darauf hin, dass alle Wesenheiten der Natur wie etwa Tiere, besondere Landschaftsformationen, Bäume, Steine, Pflanzen, Insekten usw. ein Bewusstsein haben und den Teilnehmern durch ihr Erscheinen einen Hinweis oder eine besondere Botschaft auf ihre konkrete Fragestellung geben können. Daher haben all diese Begegnungen während der Medizinwanderung womöglich eine besondere Bedeutung für das vorgebrachte Anliegen. Die Wanderung soll von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr dauern, also sieben Stunden lang.

Bevor die beiden Leiter alle Teilnehmer einzeln in ihre Solo-Zeit verabschieden, geben diese ihre Smartphones und Handys ab. Mit dabei haben sie nur einen kleinen Rucksack mit zwei Litern Wasser und ein Tagebuch, um all die Erlebnisse während des Tages notieren zu können. Auf Essen wird ganz bewusst verzichtet, um die Sinne zu stärken. Während der Medizinwanderung gilt jeder Teilnehmer wie bei einer Visionssuche als unsichtbar und ist ganz sich selbst überlassen.

Um 17.00 Uhr sind tatsächlich alle wieder zurück. Im Kreis sitzend erzählt nun nacheinander jeder einzelne seine wichtigsten Erlebnisse von der Wanderung. Dafür hat er zehn Minuten Zeit. Alle hören aufmerksam zu, keiner gibt dazwischen einen Kommentar ab. Nach jeder Geschichte geben die beiden Leiter einen „Spiegel“, ein Feedback, was ihrer Meinung nach die Erlebnisse für den Betroffenen bedeuten könnten. Hier die Erzählung von Julia:

Die Rehe zeigen mir den Weg

„Am Nachmittag hatte ich ein besonderes Erlebnis, als ich am Waldrand neben einer alten Eiche saß. Plötzlich kam eine Reh-Mutter mit ihrem Kitz auf die Wiese vor mir. Obwohl die Mutter immer wieder den Kopf hob, um sich nach allen Seiten umzuschauen, sah sie mich nicht. Deshalb fühlten sich die beiden Rehe ungestört und sicher und ich konnte sie entspannt beobachten. Das war wunderbar und etwas ganz Besonderes für mich, denn so etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Ich war Rehen noch nie so nahegekommen wie jetzt.

 

Das Reh und ihr Kitz grasten fast eine ganze Stunde lang friedlich auf der Wiese, nur etwa 30 Meter von mir entfernt. Das Kitz war dabei die ganze Zeit sehr nahe bei der Mutter, es war innig mit ihr verbunden. Dieses ganze Bild vor mir rührte mich nach einer gewissen Zeit so sehr an, dass ich erneut weinen musste –- ähnlich wie schon bei der Besprechung am Morgen in der Gruppe. Ich konnte meine Tränen gar nicht zurückhalten und da ich ganz alleine war, wollte ich dies auch gar nicht mehr. Endlich konnte ich meinen Gefühlen freien Raum geben und die Tränen einfach laufen lassen. Ich konnte es mir aber nicht erklären, warum ich so weinen musste. Was haben die Rehe in mir angerührt, was haben sie in mir ausgelöst? Hat denn ihr Erscheinen irgendetwas mit meinem Problem zu tun?

 

Irgendwann war ein Knacken im Wald zu hören. Offensichtlich schreckte dieses Geräusch die Rehe so auf, dass sie die Wiese sofort fluchtartig verließen und im Wald verschwanden. Das Erlebte mit den Rehen ging mir jedoch noch lange nach und auch jetzt bin ich deshalb immer noch ziemlich verwirrt.“

 

Reflexion: Die Reh-Mutter wird zum Vorbild

Nach der Erzählung bietet die Leiterin Julia folgende Deutung für ihr Tiererlebnis an: Das Reh und ihr Kitz zeigen ein gesundes und natürliches Zusammensein von Mutter und Kind. Die Reh-Mutter beschützt ihr Kitz auf ganz selbstverständliche Weise, das Kitz hat das Bedürfnis, der Mutter immer nahe zu sein, Reh-Mutter und Kind sind innig miteinander verbunden. Damit hat Julia einerseits einen bestätigenden Spiegel bekommen für ihre innige Beziehung zu ihrem 23-jährigen Sohn. Denn sie hat sich ebenfalls, so wie die Reh-Mutter auf der Wiese, die ganze Zeit liebevoll um ihren Sohn gekümmert, so dass er wachsen und von einem „Kitz“ zum Reh, das heißt von einem kleinen Jungen zu einem großen jungen Mann werden konnte.

Das friedliche und natürliche Bild, das die Reh-Mutter und ihr kleines Kitz ausgestrahlt haben, hat noch eine andere Komponente, die Julia zwar nicht gesehen, aber offensichtlich bereits in ihrem Herzen gespürt hat. Vermutlich war dies der Grund, weswegen sie am Waldrand so weinen musste. Denn in einigen Monaten wird das Kitz ausgewachsen sein, sich mit einem anderen Reh paaren und schnell selbst eine eigene neue Reh-Familie gründen. Das ist ein natürlicher Vorgang, der potentiell bereits jetzt in dem Kitz steckt und in ihm angelegt ist.

Die Reh-Mutter weiß instinktiv, wann sie ihr Kind ins eigene Leben entlassen kann und dann auch muss. Und dies wird schon bald der Fall sein, obwohl die Mutter heute Nachmittag ihr kleines Kitz noch liebevoll beschützt und auf es aufgepasst hat. Keine Reh-Mutter wird jedoch ihr ausgewachsenes Reh-Kind festhalten, wenn die Zeit gekommen ist. Ein Instinkt sagt ihr, wann es so weit ist, dass sie ihr groß gewordenes Kind in ihr eigenes Leben entlassen kann.

Da Instinkte bei uns Menschen nicht so dominant sind wie im Tierreich, und wir mental die Möglichkeit haben, uns durchaus auch in unnatürlichen und lebensfeindlichen Hirnkonstrukten zu verlieren, kann es genau dadurch zu Konflikten kommen. Die Beobachtung der Rehe könnte Julia in ihrer Situation daher helfen, ihre Haltung zu ihrem Sohn zu überprüfen und im Spiegel der Natur zu korrigieren, um den längst überfälligen und natürlichen Schritt jetzt zu tun: nämlich ihren Sohn nicht länger festzuhalten, sondern ihn endlich in sein eigenes Leben zu entlassen.

Vermutlich hat Julia gespürt, dass dies bald der Fall sein wird und sie ihr inniges Mutter-Verhältnis zu ihrem Sohn aufkündigen muss. Aber so, wie das erwachsene ursprüngliche Rehkitz selbst dann noch – etwa im Reh-Rudel – eine gute Beziehung zu seiner Mutter haben wird, wenn es bereits eine eigene Reh-Familie gegründet hat, so ist auch ihr Sohn für die „Menschen-Mutter“ Julia nicht verloren, wenn sie ihn jetzt in Frieden gehen lässt. Im Gegenteil. Es ist sogar wahrscheinlich, dass ihr Sohn nach einer gewissen Zeit von sich aus wieder eine gute Beziehung zu seiner Mutter suchen wird, gerade wenn sie ihn nicht mehr festhält: dann aber auf einer ganz anderen, erwachsenen Ebene.

Julia wird nun bewusst, dass die Begegnung mit „ihren“ Rehen während der Medizinwanderung genau diese zweite Komponente beinhaltete. Gerade weil sie die Reh-Mutter und ihr Kitz so intensiv und so lange beobachten konnte, wurde ihr das ganze natürliche Geschehen ja erst bewusst, auf das die Leiterin sie in ihrem Feedback soeben hingewiesen hatte. Vor allem konnte sie dieses natürliche Gesetz der Ablösung zwischen Mutter und Kind endlich in sich spüren, emotional erleben – und akzeptieren. Das äußere Reh-Bild ging in Resonanz mit ihrer Seele und erzeugte darin etwas Neues – ein heilendes und befreiendes schamanisches, inneres Seelenbild.

Alle anderen Mitglieder in der Gruppe können dabei zuschauen, wie diese archaische Erkenntnis in Julia immer mehr einsickert und emotional in die Tiefe geht. Nun weint Julia heute zum dritten Mal, aber sie schämt sich diesmal nicht (mehr) vor den anderen, denn jetzt sind es Tränen der Befreiung und Erleichterung. Etwas fällt gerade im Beisein aller von Julia ab: Ihre längst unnötige Sorge um ihren Sohn, die die Hauptursache für ihr Festhalten war. Sie darf ihn guten Gewissens ziehen lassen, weil sie weiß, dass er jetzt selbst auf sich aufpassen kann. Und das ist sehr befreiend für Julia…

Fazit: Heilung durch die Medizinwanderung

Nach mehr als 20-jähriger Initiations-Arbeit mit Jugendlichen und ihren Eltern bin ich fest davon überzeugt, dass viele (Beziehungs)Konflikte und sogar Krankheiten genau dadurch entstehen, dass entweder (Helikopter)Eltern ihre längst erwachsenen Kinder nicht wirklich ins eigene Leben gehen lassen; oder weil die Kinder etwa durch fehlende Übergangsrituale oder aus reiner Bequemlichkeit gar nicht von ihren Eltern weggehen, sondern viel zu lange lieber im „Versorgungsinstitut Pension Mama“ bleiben wollen, selbst wenn sie schon jenseits der Dreißig sind. Gerade junge Männer und ihre Mütter kommen oft nicht voneinander los, so dass man ihr Verhältnis bisweilen sogar als „gegenseitigen emotionalen Inzest“ bezeichnen könnte.

Eine Folge daraus sind oftmals Beziehungsprobleme in den neuen Partnerschaften der jungen Leute, wenn es vorher keine wirkliche Ablösung von den Eltern ins eigene Leben gegeben hat. In fehlenden Initiationsritualen junger Menschen und im mangelnden Bewusstsein vieler Eltern, ihre Kinder wirklich bewusst ins eigene Leben gehen zu lassen, sehe ich eine Hauptquelle für vielfältige Probleme in unserer heutigen Gesellschaft: jahrelanges Herumhängen junger Leute; aber ebenso Scheidungen, mangelnder Lebenssinn, Unfähigkeit der Abgrenzung und Konflikte im Beruf, Überforderung bei der eigenen Familiengründung u. v. m. bei Menschen jenseits von 35 oder 40 Jahren.

Vor diesem Hintergrund ist der (Lebens)Schritt, den Julia während des ganzen Medizintages gemacht hat, gar nicht hoch genug einzuschätzen. Und es erstaunt mich immer wieder, was Medizinwanderungen heilend für eine gesunde seelische Entwicklung bewirken können. Von Peter Maier

 

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Buch-Tipps

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Nähere Infos und Buchbezug: www.alternative-heilungswege.de und                                           

 www.initiation-erwachsenwerden.de