Lebenshilfe durch das Ritual der Medizinwanderung

An einem sonnigen Morgen auf einem Hügel westlich des Ammersees. Von hier hat man einen herrlichen Blick auf den See. Im Hintergrund die Bergkette der Alpen. Auf einer Wiese nahe eines kleinen Dorfes hat sich die Ritualgruppe getroffen: Drei Frauen im Alter von 23, 51 und 62 Jahren, ein 45-jähriger Mann und ich sitzen im Kreis auf Isomatten. Geleitet wird die Gruppe von einer Frau. Wir haben uns alle entschieden, an einer sogenannten „Medizinwanderung“ teilzunehmen, nachdem wir schon wochenlang im Mailkontakt mit der Leiterin waren. Sie führt uns nun nochmals kurz in den Sinn dieses Unterfangens ein. Mutter Natur mit all ihren Wesenheiten – mit den Blumen, Pflanzen, Bäumen, Wäldern, Tieren, Steinen und Landschaftsformationen – kann und will mit uns kommunizieren, wenn wir nur offen dafür sind. Sie will uns gleichsam ein Spiegel für unsere Anliegen sein, so wie auch eine liebende und weise Mutter ihre Kinder führen, anleiten, schützen und ihnen die Augen für die wesentlichen und schönen Dinge im Leben öffnen will. Die Natur ist uns grundsätzlich wohlwollend und positiv gesonnen, wenn wir nur achtsam und offen genug mit ihr und ihren Wesenheiten umgehen. Hier gilt der Satz: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück!“ Natürlich sind wir alle nicht zufällig da. Wir haben ein oder mehrere Anliegen mitgebracht, für die wir hoffen, heute Impulse und Antworten zu bekommen. Dazu muss aber jeder für sich sein und einen ganzen Tag lang bewusst allein und ungestört in der Natur verbringen. Die Moränenlandschaft am Ammersee gilt allgemein als „energetisch sehr aufgeladen“. Dies wird unserem Vorhaben sicher zu Gute kommen.  Aber jetzt geht es nicht um einen Spaziergang oder um eine bloße Wanderung; heute werden wir Teil eines uraltes Rituals, das bei indigenen Völkern zur selbstverständlichen Psychohygiene, zur Reinigung und Klärung der Gedanken und zum Finden neuer Visionen diente. Daher auch der Name „Medizin“-Wanderung. Warum sollen wir Menschen in Westeuropa nicht auch von diesem erprobten Wissen und dem uralten Erfahrungsschatz traditioneller Völker profitieren? Es bedarf dazu ja keines weiteren Vorwissens. Die einzige Bedingung, die wir mitbringen müssen, ist es, uns einen ganzen Tag lang wirklich bewusst, offen und vorurteilsfrei auf die Natur einzulassen. Und es wird gefastet, um unsere Sinne während des Rituals zu schärfen. Unsere ganze Aufmerksamkeit soll von außen nach innen, vom Kopf in die Seele gelenkt werden. Schon am frühen Morgen noch zu Hause haben wir nur Tee, Kaffee, Wasser oder Saft zu uns genommen, sonst nichts. Mitgebracht haben wir nur feste Wanderstiefel, einen Rucksack mit etwas Wäsche, vier Liter Wasser, eine Regenplane für alle Fälle, eine Brotzeit für den Abend und ein Tagebuch. In dieses notieren wir nun auch die Fragen, die uns die Leiterin mit auf den Weg
geben will.

Nichts wird bewertet
Die Leiterin macht uns Mut, diese Anliegen und Fragen möglichst konkret vor der Gruppe auszusprechen, um ihnen dadurch noch mehr Kraft, Bewusstheit und Wichtigkeit zu verleihen. Wer jedoch sein Thema nur allgemein vor den anderen Teilnehmern nennen möchte, ist genauso willkommen. Alle unsere Anliegen, Probleme und Fragen werden gleich ernst genommen. Nichts wird bewertet. Die Leiterin ist davon überzeugt, dass auch Mutter Natur nichts bewertet. Die Natur kann uns aber einen Spiegel für uns und unser Inneres geben und vielleicht sogar Unbewusstes ans Licht bringen. Darum sollen wir während unserer Wanderung alles, was uns widerfährt, wichtig und ernst nehmen. Oft sind es die ganz kleinen Dinge, die für unser Anliegen eine große Bedeutung haben können: Sehen von Tieren, Betrachten eines bestimmten Landschaftsbildes, auffällige Hügel und Baumgruppen oder auch nur ein bestimmter Baum, der unsere Aufmerksamkeit anzieht. Alles kann zu einem Spiegel für unser Thema werden, für das wir ja gleich „hinausgehen“ werden. Alles kann womöglich dazu beitragen, Antworten auf unsere Fragen zu erhalten. Vielleicht kommen uns auch nur „einfach so“ plötzlich Gedanken in den Sinn. Etwa um neun Uhr vormittags ist es dann so weit. Die Leiterin erklärt uns den eigentlichen Ablauf des Rituals, das aus drei Teilen besteht. Jeder soll sich eine Schwelle aus einigen Steinen oder Ästen auf den Boden legen und sich vor diese Schwelle stellen. Je nach innerer Einstellung kann es sinnvoll sein, das Universum, alle guten Geister dieses Ortes, Mutter Natur oder Gott um Kraft, Schutz und um Visionen während der gleich beginnenden Medizinwanderung zu bitten. Danach soll diese Schwelle bewusst überschritten werden (Teil 1). Ab diesem Zeitpunkt befinden wir uns in einer Art von „Anderswelt“ – in der Welt der Naturwesen (Teil 2). In dieser „Schwellenzeit“ gelten wir als unsichtbar und werden nur mit den Wesenheiten der Natur kommunizieren, jedoch auf jeden Kontakt mit anderen Menschen verzichten. Denn dies würde unseren Prozess der Begegnung und der Kommunikation mit Mutter Natur stören. Bei Sonnenuntergang sollen wir dann wieder zu unserer Wiese zurückkehren und die Schwelle in die Gegenrichtung überschreiten (Teil 3). Dieser Übergang bedeutet dann das Ende des Rituals – unseres bewussten und achtungsvollen Seins in der Natur. Nach einem intensiven Abschied überschreitet jeder seine Schwelle. Nun sind wir allein, jeder ist auf sich selbst gestellt, etwa zwölf Stunden lang.

Tieferen Sinn erkennen
Zwei Teilnehmerinnen und ich kommen bereits etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang zurück. Die Leiterin bittet uns, noch nichts zu essen, nicht miteinander zu kommunizieren und in der Stille zu bleiben. Einer der Männer und die junge Frau treffen erst deutlich nach Sonnenuntergang ein und setzen sich zu den anderen in den Kreis, nachdem sie zuvor ihre Schwelle zur „Realwelt der Gruppe“ wieder überschritten haben. Die Leiterin ist froh, uns alle wieder gesund und anscheinend auch seelisch wohlbehalten im Kreis begrüßen zu können. Gemeinsam brechen wir nun mit unseren mitgebrachten Speisen das Fasten, die wir langsam und ganz bewusst zu uns nehmen. Selten hat eine einfache Mahlzeit so geschmeckt wie jetzt. Nun entzündet die Leiterin ein Feuer, das uns während des letzten Teils des Medizintags begleiten und uns Mitte geben soll. Denn nun erzählt jeder Einzelne seine Geschichte von „da draußen“ in der Natur. Er bekommt dafür jeweils zehn Minuten Zeit. Es ist dabei üblich, keine Kommentare abzugeben, sondern nur zuzuhören. Nach jeder einzelnen Geschichte gibt uns die Ritualleiterin einen „Spiegel“, das heißt ein ganz persönliches Feedback zu unseren Erzählungen und stellt einen Zusammenhang zu den Anliegen her, die sie am Morgen von uns gehört hat. Das hilft uns sehr den tieferen Sinn unserer Erlebnisse klarer zu erkennen. Nachdenklich, tief erfüllt und sehr bereichert fahren wir nach diesem Tag nach Hause.

Bei einer Medizinwan­derung lassen sich beispielsweise fol­gen­de Fragen stellen
• Welche Fragen habe ich mitgebracht, worauf möchte ich heute Antwort bekommen?
• Was möchte ich in meinem Leben nun hinter mir lassen, wovon möchte ich mich heute bewusst verabschieden?
• In welchen Bereichen meines Lebens erhoffe ich mir neue Ideen und Impulse, ja vielleicht sogar eine Art von Vision?
• Welchem gerade anstehenden Übergang in meinem Leben möchte ich Kraft geben?
• Für welche Dinge möchte ich Gott, das Universum oder Mutter Natur um Unterstützung bitten?
www.visionssuche.net

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Bildnachweis: Monika Frei-Herrmann

Buch-Tipp

Initiation. Erwach­sen­werden in einer unreifen Gesellschaft
Band I: Übergangsrituale
Epubli Berlin, 332 Seiten
ISBN 978-3-86991- 406-6
Preis: 18,99 Euro

Band II: Heldenreisen
Epubli Berlin, 342 Seiten
ISBN 978-3-86991- 409-1
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Der Autor
Peter Maier ist Gymnasiallehrer und Initiations-­Men­tor. Der in Ostbayern geborene Autor durchlief langjährige Fortbildungen in Gruppendynamik, initiatischer Therapie und christlicher Kontemplation. Dazu kommen Selbsterfahrungen mit Visionssuchen, Familienaufstellungen, in der Männer- und Ritualarbeit und mit vielfältigen alternativen Heilmethoden.