Ausstieg auf Zeit: weg von der lärmenden Leistungsgesellschaft und der medialen Selbstinszenierung hinein in eine Welt des Schweigens. Wie heilsam der Rückzug in die Stille für Körper, Geist und Seele sein kann, erlebte ich während eines Schweige-Retreats  im Benediktushof Holzkirchen – ein Selbsterfahrungsbericht. Von Kerstin Maria Pöhler.

Mittwoch, erster Tag

45 Minuten Meditation gehört seit über 10 Jahren zu meiner täglichen Praxis, ich nenne sie „meine Seelendusche“, der Geist ist danach klarer, ich fühle mich wacher, aufmerksamer und reagiere gelassener. Nun möchte ich meine Meditationserfahrung unter Anleitung eines Lehrers in den kommenden Tagen vertiefen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend zu meditieren wird eine Herausforderung für mich sein.

Am Nachmittag reise ich an, die Herbstsonne fällt in den Innenhof der ehemaligen Klosteranlage, Kieswege führen entlang eines eingefassten Bachbettes und der sorgsam gepflegten Rasenflächen und Beete, Bänke laden zum verweilenden Betrachten ein.

Ich melde mich an der Rezeption im Hauptgebäude an, bezahlt wird im Voraus, Cash oder EC-Karte werden akzeptiert, sagt die resolute Dame am Empfang – hier geht es also noch sehr weltlich zu. Sie bittet darum, mich in die Liste der zu übernehmenden Haus- und Gartenarbeiten einzutragen, mit einer Stunde Arbeit pro Tag bringt sich jeder in den Erhalt und die Pflege des Gemeinwesens ein. Ich wähle eine für mich neue Tätigkeit aus und melde mich für Näharbeiten in der Schneiderei, auch ein gewisses Komfortdenken beeinflusst meine Wahl – Hofarbeiten können je nach Witterung sehr unangenehm sein…

Ich beziehe ein Einzelzimmer im Seitenflügel mit einem schönen Blick in den Innenhof, die Einrichtung ist wertig und spartanisch zugleich: Bett, Schrank, ein Tisch mit Stuhl vor dem hohen Sprossenfenster, ein winziges Bad, kein Bild an den weiß getünchten Wänden. Es ist noch Zeit bis zum Coming-togehter. In der kleinen, gut sortierten Buchhandlung auf dem Gelände kaufe ich eine Sammlung Haikus,  eine passende Begleitlektüre für die kommenden Tage, meine ich und beginne sogleich auf der sonnigen Terrasse des Cafés vor der Buchhandlung zu lesen.

Der große Gong im Hof ruft um 18.00 zum Abendessen. Die dreißig Teilnehmer unserer Gruppe, die Alterspanne liegt zwischen 35 und 80 Jahren, verteilen sich auf drei lange Tische, die Frauen sind in der Mehrheit, ich zähle acht Männer. Es gibt noch drei andere Gruppen in dem großen Speisesaal, eine Zen-Gruppe ist einheitlich gekleidet und trägt eine Art schwarzen Judo-Anzug. Die Leitung des Zentrums macht uns mit den Verhaltensregeln während der Mahlzeiten bekannt: Mit dem 1. Gong versammeln an den Tischen, mit dem 2. Gong setzen und weiterreichen der vegetarischen Speisen und Getränke (Tee und Wasser). Das Essen erfolgt im Schweigen, die Verständigung erfolgt über Blicke und Gesten, was ein genaues Wahrnehmen und eine Achtsamkeit gegenüber den Bedürfnissen der anderen erfordert.  Erst wenn jeder sich bedient hat, beginnt die gemeinsame Mahlzeit. Ich zeige auf das Brot, der Tischnachbar reicht es mir, ein Lächeln, ein dankbarer Blick als Dankeschön meinerseits. Das Schweigen schärft meine Sinne, die Dinge springen mir ins Auge: die drei hohen Fenster zum Innenhof, die chromfarbene Schüssel mit Kürbissuppe, die ovale Platte mit Fenchelgemüse, das Zucker- und Honigtöpfchen zum Süßen des Pfefferminztees, die kleine Vase mit gelben Blumen auf dem Tisch,  die weiße Schale mit Quarkschafskäseaufstrich, der längliche Brotkorb mit hausgemachten Brot. Kein Reden lenkt mich ab, ich schmecke den Kreuzkümmel und den Ingwer in der Suppe, spüre die Bissfestigkeit des Gemüses zwischen meinen Zähnen. Ich höre das Geklapper von Besteck und Geschirr im Raum, Blicke treffen sich und weichen sich schnell wieder aus – schweigend den Blick des anderen auszuhalten verlangt nach einer größeren Vertrautheit. Ich schaue zum Fenster hinaus: Eine einzelne Wolke am tiefblauen Abendhimmel, dunkles Grün der Büsche im verschatteten Innenhof.

Um 19.30 trifft sich unsere Gruppe im Meditationsraum im Dachgeschoss, für jeden liegt eine Matte und ein Kissen am Boden bereit, ein kleines Papierschild davor, auf den wir unseren Namen eintragen sollen, wir sitzen im Carré. Ich finde einen freien Platz neben der jungen Frau, die meine Tischnachbarin beim Abendessen, war und mir sympathisch erscheint. Unser Kursleiter, Richard, bittet uns, paarweise zwei Fragen nachzugehen, wobei jeweils einer spricht und der andere zuhört, ohne zu das Gehörte zu kommentieren: Was verbindet mich mit anderen Menschen? Welche Sehnsüchte bewegen mich? Pia (Name geändert) macht den Anfang, wir sitzen uns gegenüber und schauen uns vertrauensvoll an. Sie beschäftigt nach einer Trennung die Frage, welche Erwartungen sie an die Liebe hat, und was für ein Mensch sie eigentlich ist. Ihre Offenheit berührt mich, eine Begegnung von Mensch zu Mensch ohne Verstellung und Fassade. Als ich an der Reihe bin, erzähle ich von der Sehnsucht, nicht länger beruflich als Einzelkämpferin unterwegs sein zu wollen, der Austausch und die Nähe zu Gleichgesinnten fehlt mir. Zudem sehne ich mich nach mehr Lebensfreude unabhängig von Leistung und Anerkennung. Warum sehe ich immer nur das Fehlende und nicht das, was alles an Gutem da ist? Meine Ehe, die mich trägt, Freunde, die mich unterstützen, geistige und musische Interessen, die mich ausfüllen, wenn ich sie nicht brach liegen lassen würde. Wäre ich dankbarer, könnte ich glücklicher sein…Ich halte inne, das ist eine entscheidender Frage, die mir durch die Selbstaussprache und Pias Zuhören erst bewusst wird: Was hindert mich daran, dankbarer und wertschätzender sein zu können?

Nach dem paarweisen Austausch stellt sich jeder in wenigen Sätzen der gesamten Gruppe vor und was er sich von dem Retreat erhofft. Die Wünsche der anderen tangieren auch mich: Autonomie, zu sich selbst finden, Akzeptanz der eigenen Person und Lebenssituation.  „Nur in der Stille entsteht das Neue“, sage ich, als ich an der Reihe bin. Zum Abschluss gibt uns Richard noch ein paar Verhaltensregeln für die kommenden Tage mit auf den Weg: keine Lektüre oder sonstigen Ablenkungen (Mails, Internet, Telefonate etc.), um ganz bei sich zu bleiben – die Haiku-Lektüre werde ich also aufschieben müssen.

Donnerstag, zweiter Tag

In der Nacht bin ich immer wieder von Rückenschmerzen erwacht, die mir auch am Vormittag zu schaffen machen. Richard leitet uns bei der Sitzmeditation vor dem Frühstück an, lenkt unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die Wahrnehmung unseres Körpers von Fuß bis Kopf, dann des Atems und später der Gedanken, die uns durch den Kopf gehen – sie wahrnehmen, sie benennen und sie vorbei ziehen lassen wie Wolken am Himmel. Den emotionalen Reaktionen auf den Gedanken wie z. Bsp. Ärger, Wut, Freude im Körper nachspüren ohne sich mit den gedanklichen Inhalten auseinanderzusetzen. Wo spüre ich die Emotion im Körper genau und wie fühlt sich die körperliche Reaktion genau an? Das Wichtige dabei ist, nicht zu bewerten (Unwohlsein oder Wohlsein), sondern allein die Wahrnehmung. Ich befrage in dieser Weise meine Rückenschmerzen, spüre wo der Schmerz genau sitzt, wie er sich anfühlt und beobachte, wie die Symptome in meiner Wahrnehmung erstaunlicherweise schwächer werden.

Nach dem Frühstück gehe ich in die Schneiderei. An die Nähmaschine wage ich mich nicht, zu meiner Schulzeit konnte ich damit umgehen, aber das ist 30 Jahre her. Ich stecke stattdessen die Ober-, Unter- und Seitenteile der Mediationskissen zusammen, damit sie später zusammengenäht werden können. Ich stelle mich dabei nicht sehr geschickt an, aber die Schneiderin lacht nur herzlich und meint, das wird schon. Ihre Zuversicht beruhigt mich, aber unangenehm ist es mir dennoch: wenn ich eine Aufgabe übernehme, möchte ein gutes Ergebnis abliefern.

Der Vormittag gestaltet sich als ein Wechsel von Meditation und paarweiser Selbsterfahrungsübung. In der Partnerübung, diesmal mit meiner Sitznachbarin zur Linken, sollen wir mit einer spontanen Geste unserer Befindlichkeit ausdrücken und die damit einhergehende Körperwahrnehmung beschreiben. Marga (Name geändert) hebt die Arme halb  hoch, als umarme sie einen unsichtbaren großen Luftballon. Mein Part besteht allein darin, wahrzunehmen und zuzuhören, während Marga mit geschlossenen Augen von der Empfindung von Klarheit, Leichtigkeit und Transparenz spricht. Ihre positive Gestimmtheit überträgt sich auf mich, der Anblick ihres harmonischen Gesichtsausdrucks tut gut. Als ich an der Reihe bin, mache eine langsam kreisende Bewegung mit den Armen, dabei spüre ich ein warmes inneres Strömen in meinem Körper, ein angenehmes Gefühl, das meine Rückenschmerzen noch mehr in den Hintergrund treten lässt. Die anschließende Gehmeditation im Innenhof fällt mir schwer – wie in Zeitlupe gehen, jeden Schritt wahrnehmen, der Bewegung der Beine nachspüren, dem Abrollen der Fußsohlen… Die Langsamkeit macht mich nervös und zerstreut, mein Blick springt hin und her, sieht dies und das, lenkt mich ab.

Richard bietet jeden Tag in den Ruhezeiten nach dem Mittagessen und dem Kaffeetrinken Einzelgespräche an. Er empfängt mich wohlwollend und ruhig, hört aufmerksam zu, sogleich habe ich das Gefühl, angenommen zu sein. Mir geht es um die Frage, wie ich gelassen bleiben kann, wenn ich einerseits für meine künstlerische Tätigkeit brenne und kämpfe, andererseits unter mangelnder Wahrnehmung meines Schaffens leide. Die Dinge einfach laufen lassen? – das wäre für mich Phlegma. Er macht eine kluge Unterscheidung zwischen Gleichmut und Gleichgültigkeit, was für ihn gleichbedeutend mit Desinteresse ist. Ersteres ist eng verbunden mit dem Tun, letzteres nicht. Gleichen Mutes bleiben bedeutet Stetigkeit und Ausdauer, ein an-der-Sache-bleiben, ohne sie erzwingen zu wollen. Nur so bewahrt man sich die Offenheit für neue Impulse, ohne die keine Kreativität entsteht – eine Einsicht, die sich auf eine gelungene Lebensführung überhaupt übertragen lässt. Wie oft steht mir mein eigenes Ego im Weg? – dieses Konstrukt meiner selbst, in dem diejenige, die ich meine zu sein, hadert mit der, die ich sein will: exzellent, herausgehoben, einzigartig. Eine Wahrnehmungsverengung auf  Status, Erfolg und Anerkennung, ein Anhaften an äußeren Etiketten und damit letztendlich an einer Illusion. Wer ist überhaupt dieses Ich angesichts des stetigen Wandels des Lebens? Ich bin nicht mehr das Kind, die Jugendliche, die Studentin, die ich einmal war, ich denke, empfinde und lebe anders als damals, gehe anderen Tätigkeiten nach, habe andere Vorstellungen vom Leben, und selbst jetzt empfinde ich mich anders als noch vor wenigen Stunden in der Gehmeditation: Ich bin präsent, sitze ruhig und aufmerksam Richard gegenüber. Zwei Einsichten nehme ich mit aus unserem Gespräch: ein permanentes, gleichbleibendes Ich gibt es nicht, sondern nur ein Bewusstsein für das ständige Werden und Vergehen im Leben. Die gegenseitige Offenheit und Präsenz im Austausch mit einem anderen Menschen schafft eine Verbundenheit, die mir gut tut und mich zu einem tieferen Verständnis meiner selbst inspiriert.

Das Wetter ist immer noch schön, ein warmer Herbsttag, und ich beschließe, in der noch verbleibenden freien Zeit den Zengarten zu photographieren. Es macht Freude, einzelne Motive in den Fokus der Kamera zu nehmen, doch zugleich bemerke ich das Ungenügen meines Tuns: Ich gehe auf beobachtende Distanz und verbinde mich nicht mit der Natur. In Bildern will ich Harmonie und Schönheit des Gartens festhalten, ohne sie erlebt zu haben. Was für ich soeben Wohltuendes in der menschlichen Begegnung erfahren habe, gilt auch für die Natur: Ich kann nur eine innere Verbundenheit zu ihr herstellen, wenn ich offen mit allen Sinnen für sie bin. Würde ich eine Beziehung zu einem Menschen aufbauen, indem ich ein Photo von ihm schieße? Wohl kaum.

Am Nachmittag lässt meine Energie rapide nach: In der Gehmeditation schweift mein Geist immer wieder ab, meine Gedanken hüpfen hin und her wie ein Sack Flöhe. Mein Bedürfnis nach Innenschau ist erschöpft, meine Phantasien treten die Flucht nach vorn an: Ich will raus, etwas erleben, ein Weißbier trinken, etwas Deftiges essen –  alles, nur keine vegetarische Kost. Trotzig unterbreche ich mein langsames Gehen, studiere die Speisekarte der Klosterschänke, male mir die üppigen Gerichte vor meinem inneren Auge aus. Dann wende ich mich ab und esse doch mit den anderen schweigend im Speisesaal, zufrieden bin ich darüber nicht. In der Sitzmediation nach dem Abendessen schmerzen mir die Knie, ich habe das Gefühl, mir fallen die Beine ab, ich bin gereizt, will am liebsten aufspringen und mich schütteln, tue es aber nicht. In der Liegemeditation habe ich kurze Traumphasen, wache immer wieder auf, höre andere schnarchen. Ich fühle mich körperlich und geistig überfordert, sehne mich nach Ablenkung (von mir?)

Freitag, dritter Tag

Nach der Nacht bin ich ausgeruhter als nach der vorherigen. Vor der Frühmeditation stapele ich zwei Meditationskissen übereinander auf die ich mich rittlings setze, so dass meine Knie entlastet sind. Durch die neue Sitzposition bin ich entspannter, und es fällt mir leichter, mich zu sammeln. Ein Sehnsuchtsbild steigt in mir auf: In mir zu Hause sein. Die Antwort auf Richards Frage am ersten Tag, wonach wir uns tief im Inneren sehnen, ist mir also soeben bewusst geworden, ohne Nachdenken ist sie auf einmal da.

Nach dem Frühstück Hausarbeit, die Schneiderin empfängt mich herzlich. Heute teilt sie mich zum Bügeln ein: Ich plätte die Nähte der Schulterriemen für die Leinenbeutel, die hier ebenso wie die Meditationskissen und schwarzen Zen-Anzüge hergestellt und im Klosterladen verkauft werden. Das Tätigsein empfinde ich als Wohltat, eine Befreiung von der ewigen Innenschau. Ich konzentriere mich auf jeden Handgriff und bemühe mich um Sorgfalt.

Richards Vortrag am Vormittag beschäftigt sich mit dem Thema, was hinter dem Gegenständlichen in unserer Wahrnehmung liegt. In der Atem-Meditation lenken wir unsere Wahrnehmung auf das Aus- und Einatmen, also wo und wie wir den Atemfluss im Körper erfahren. Mit jedem neu einsetzendem Atemzug können wir uns gewahr werden, dass das Atmen ganz von Selbst geschieht und wir von einer Lebensenergie jenseits unserer Einflussnahme durchdrungen sind. Das „innere Lauschen“ wie er es nennt, lenke unsere Aufmerksamkeit noch tiefer nach innen, was durch das Schließen der Augen verstärkt werde. In der Stille zwischen dem Ein- und Ausatmen, wenn der Atem für einen Moment stehen bleibt, wird der Urgrund und die Kraft alles Seienden erfahrbar. Das sind große Worte, die sich mir über die Verstandesebene nicht erschließen.

Er gibt uns den Auftrag paarweise zu erforschen, was der Satz Ich bin und das Wort Sein in uns auslöst. Ich lasse meinem Partner den Vortritt, er erzählt dass er sich wie in einem Wirbel in einem Trichter fühlt, und dann, nach Aufregung und Bewegung Leere und Stille. Ich beobachte, dass meine anfangs ablehnende innere Haltung dem schweren dicklichen Mann gegenüber schwindet: Je länger ich ihm zuhöre und mich auf das einlasse, an dem er mich teilhaben lässt, desto näher fühle ich mich ihm. Als ich an der Reihe bin, schließe ich die Augen und verbinde die Worte Ich bin und Sein mit meinem Ein- und Ausatmen. Ich sehe ein dunkles lila vor einem anthrazitfarbenen Hintergrund, ab und zu grüne Blitze, ich deute sie als unkontrollierte neuronale Entladungen, ein inhaltsloses Vibrieren in meinem Kopf ohne konkrete Gedankeninhalte, ein rein physiologischer Prozess, danach ruhige Leere, sonst nichts. Gereinigte Festplatte in meinem Hirn oder Urgrund alles Seienden?

Die Gehmeditation fällt mir heute leichter: Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf die Fußsohlen, das Gespür für den Boden, manchmal bleibe ich auf einem Fuß stehen und spüre, wie mein ganzer Körper arbeitet, um das Gleichgewicht zu halten. Mit einem Mal erkenne ich, was Sammlung bedeutet: den Moment mit allen Sinnen bewusst erleben, im Hier und Jetzt sein.

Am Nachmittag spaziere ich über das Gelände, sitze einer Weile bei der Bronzeskulptur des Lehrenden, die unter schattigen Bäumen hinter der Klosterkirche steht und betrachte sie. Die inneren Ruhe und Sammlung, die in der Figur zum Ausdruck kommt, überträgt sich auf mich. Danach gehe ich im kreisförmigen Wiesenlabyrinth den Weg ins Zentrum, verlaufe mich in Sackgassen, nehme Umwege bis ich am Kreismittelpunkt ankomme, wobei ich das nicht als Höhepunkt der kleinen Odyssee empfinde: ich stehe in einem Zentrum das leer ist, kein besonderes Zeichen wie ein Baum, ein Kreuz oder ein sonstiges Symbol findet sich hier. Ich schließe die Augen, nehme den Fluss meiner Wahrnehmungen wahr, zwischen den einzelnen Sinneseindrücken, gibt es immer wieder Leerstellen, die nicht mit Inhalten gefüllt sind, Momente, in denen ich das reine Bewusstsein in mir wahrnehme. Ich öffne die Augen und gehe den Weg zurück zum Kreisrand. Ich reflektiere meine Erleben und erkenne, dass dieses Labyrinth ein Modell für den Weg nach innen darstellt und vielleicht ist das reine Bewusstsein der Urgrund des Seins, der hinter den Dingen liegt.

In der Lehrrede am Nachmittag geht es um die Teilhabe an der Gemeinschaft sowie die sozialen und politischen Dimensionen des kontemplativen Lebens. Das meint eben gerade nicht die  Abspaltung von der Gesellschaft oder die Ausgrenzung anderer, sondern die Gestaltung eines friedvollen Miteinanders.

In der Partnerübung sprechen wir uns darüber aus wie wir uns in der Gemeinschaft mit anderen empfinden, welche Erfahrungen wir gemacht haben. Erika (Name geändert) erzählt von ihren Wettkämpfen als Läuferin und dem Ehrgeiz zu siegen – der Kampf eines jeden gegen jeden. Sie sieht Parallelen im Wettstreit ihrer Familie, den Rivalitäten untereinander und der Missgunst: Wer bekommt das größte Steak beim Grillen? Sie verspürt eine große Sehnsucht nach Geborgenheit in der Gemeinschaft und leidet unter dem  Ego-Shooter- Verhalten in unserer Gesellschaft, in der sich jeder selbst der nächste ist. Was sie erzählt, kann ich gut nachempfinden, da ich es ähnlich erlebt habe, doch als ich an der Reihe bin, steigt ein anderes Gefühl in mir auf. Ich sehe wieder das Violett und Anthrazit hinter den Lidern und spüre dann einen angenehmen Wärmestrom durch meinen Körper fließen, dazu kommt das starke Gefühl der Verbundenheit mit den Menschen in diesem Raum – ein Energiefeld menschlicher Nähe.

Bei der Gehmeditation mache ich eine neue Erfahrung: Ich defokussiere meinen Blick, während ich meine Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung des Gehens lenke. So nehme ich mein Umfeld verschwommen wahr und fühle mich mit ihm verbunden, lenke aber nicht den Blick direkt in das Außen, da ich sonst meine innere Sammlung verliere. Mit der Liegemeditation habe ich nach wie vor Schwierigkeiten, das Liegen macht mich nervös, im Gegensatz zum Sitzen oder Gehen.

Im Gespräch mit Richard thematisiere ich diese innere Unruhe. Er erläutert, dass es bei dieser Form des Meditierens um die Hingabe an den Augenblick und die Aufgabe jeglicher Selbstkontrolle geht, die Unruhe könnte also eine innere Abwehrhaltung sein. Ich erwidere, dass mir das Nichts-Tun schwer falle und mein Selbstverständnis davon geprägt ist, etwas zu tun: Ich schaffe, also bin ich. Wenn ich nicht tätig bin, fühle ich mich wie abgestorben. Sind wir nicht mehr als unsere Arbeit, entgegnet Richard, gibt es nicht noch andere Möglichkeiten für Dich im lebendigem Kontakt und Austausch zu sein als durch die Arbeit?

Samstag, vierter Tag

Ich kann mich in der Meditation nicht auf meinem Wissen und Erfahrungen ausruhen, es gilt immer wieder von Neuem, in meiner Wahrnehmung wach und ganz im Augenblick zu sein. Es ist kein „Fehler“, wenn mein Geist abschweift, das ist menschlich, das Wichtige ist, dass ich mir der aufkommenden Gedanken bewusst werde, ohne mich weiter mit ihnen auseinanderzusetzen. So schaffe ich mir ein Bewusstsein dafür, was mich innerlich beschäftigt, und dass es so, wie es ist, ist es gut – das hat etwas Tröstliches. In der Liegemeditation gelingt es mir, einfach nur dazuliegen und zu spüren, an welchen Stellen genau mein Körper den Untergrund berührt: am Hinterkopf, den Schulterblättern und der oberen Wirbelsäule, am Steißbein, den Oberschenkel, Waden, Fersen, und ich habe das angenehme Gefühl der Verbundenheit mit dem Boden, der mich trägt.

Ich freue mich auf die Schneiderei und wundere mich über mich selbst –  Näharbeiten gehörten bisher nicht zu meinen Hobbys –  es liegt wohl an dem Gefühl des Eingebundenseins in diese kleine Arbeitsgemeinschaft. Ich bügele wieder die Schulterriemen für die Leinenbeutel glatt, die Naht soll genau in der Mitte liegen, was mir heute misslingt. Die Schneiderin erklärt mir wohlwollend, wie ich es korrigiere, so dass ich es nicht als persönliches Versagen empfinde, sondern als Notwendigkeit, die ich gerne umsetze. Auch das ist eine neue Erfahrung für mich, da ich sonst  Kritik zumeist mit einem „ja, aber…“ abwehre.

Die Vormittagsrunde beginnt mit einem Vortrag Richards, in dem er die Frage Wer oder was bin ich? vertieft. Das Ich ist eine Konstruktion, eine Vorstellung von uns selbst, die im Verlauf der Zeit dem Wandel unterworfen ist. Wir übernehmen Rollen und legen sie wieder ab. Aus der Identifikation mit diesen Rollen erwächst ein Begehren, daran festhalten zu wollen. Wenn ich mich stark über den Beruf definiere und diesen nicht mehr ausübe, wer bin ich dann jenseits der mir zugeschriebenen Rolle des Berufstätigen? Auch in anderen Lebensbereichen schafft eine starke Identifikation Leiden: das krampfhafte Festhalten an materiellen Gütern, die Inbesitznahme eines Menschen geht mit der Anspruchshaltung einher, dass das oder der Begehrte notwendig zu uns, oder im Falle des Lebenspartners, sogar uns gehört. Wir entwickeln eine Anspruchshaltung, die befeuert wird von dem Verlangen, all das, was uns umgibt und all diejenigen, die uns nahe stehen, nach unserem Bild zu formen. Diese Inbesitznahme und Besitzstandswahrung entspringt der Angst vor Wandel und Veränderung des Lebens und ist Quelle des Unglücks und Leidens.

In der Partnerübung erforschen wir die Frage Wer bin ich jenseits der mir zugeschriebenen Rolle?

Ich finde eine neue Partnerin, das Zuhören weitet mich, ich spüre eine Resonanz des Erzählten in mir: Ihre Ich-Rollen  haben gegenwärtig keine Relevanz, sagt sie, im Augenblick spürt sie den Wärmefluss in den Gliedern, Kribbeln in den Fingern, Atemzüge, Herzschlag, das Rauschen des Blutflusses im Ohr. Die sinnliche Wahrnehmung ist der der Zugang zu der Kraft, die uns wirkt und uns am Leben hält. Meine Erleben deckt sich mit dem von Susanne (Name geändert) und bestärkt mich. Das Bewusstsein für die selbsterhaltende Kraft des Lebens in mir hat etwas zutiefst Beseelendes und gibt mir ein Zuhause in meinem Körper.

Am Nachmittag hält Richard einen Vortrag über das schöpferische Tun und geht von folgenden Fragen aus: Ist es mein Werk, das ich schaffe, oder entsteht das Werk aus mir heraus und ist mehr als mein wollendes und planendes Ich sich vorgenommen hat? Woher kommt der Einfall, der kreative Funke, der ein Werk befeuert? Der Einfall ist nicht zu konstruieren oder gar zu erzwingen, er fällt einem zu, meist in der Stille, auf einmal ist er da, ohne Nachdenken stellt er sich oft ein. Dafür ist es nötig, sagt Richard, empfänglich für Neues zu sein, eine innere Haltung von Weite und Offenheit für das Hier und Jetzt zu haben. Der Druck der eigenen Erwartungshaltung verengt den Geist und verhindert das Entstehen von etwas Neuem, so wie ein Samenkorn, das man beständig in die Erde tritt, in Sorge es könne nicht angehen, niemals sprießen wird. Geduld, Vertrauen, Loslassen –   Gelassenheit ist von Nöten.

In der anschließenden Gehmeditation überlasse ich mich dem Gehen, ich gehe dahin, wohin meine Schritte mich führen, nehme die Büsche und Pflanzen um mich herum aus jeweils neuen Perspektiven wahr, das Gehen lenkt meinen Blick, nicht umgekehrt, ich verfolge kein Ziel, habe keinen Wegeplan, nehme mir nichts vor. Ich höre das Plätschern des Brunnens, spüre den Wind an den Fingern, die Regentröpfchen auf meinem Kopf, merke das Vergehen der Zeit nicht und bin erstaunt, als der Gong das Ende der Meditation anzeigt.

Ich treffe Richard zum Gespräch und erzähle Von meiner Angst vor Endlichkeit und Tod. Sterben können bedeutet in letzter Konsequenz, das Leben loslassen zu können, erwidert er. Ich erzähle ihm von Augenblicken vollkommenen Erfülltseins durch Musik, in denen ich das Leben leicht hätte loslassen können und mich durchdrungen und geborgen von einer Kraft fühlte, die über mich hinaus ging. Dieses Gefühl ist jedoch nicht von Dauer. Richard erläutert, dass ekstatisches Glücksempfinden Momente höchster Präsenz im Augenblick seien. Das Aufgehen im erfüllten Glücksmoment sei aber zu unterscheiden von der spirituellen Dimension der Meditation: dem sich Verbinden mit dem Urgrund, der unter allem Leben liegt, die in sich ruhende Leere. Ich will mehr darüber wissen, es intellektuell ergründen, doch Richard sagt, das sei nur in der Praxis des Meditierens erfahrbar.

Sonntag, fünfter Tag

Nach der Frühmeditation bittet uns Richard, unserem Sitznachbarn die Hand an der Stelle aufzulegen, wo der andere es wünscht und dabei einen stillen Segen zu sprechen. Pia, mit der ich am ersten Abend die Übung zum Kennenlernen machte, und ich finden nach all den Tagen wieder zusammen. Diesmal mache ich den Anfang und bitte Pia, mir die Hand auf meine verspannte rechte Schulter zu legen, die sich allmählich durch den Kontakt und Wärmefluss lockert. Pia bittet mich, meine Hände in ihren Nacken zu legen, ich spüre, wie die Wärme meiner Hände sie entspannt und wünsche ihr, dass sie eine Antwort auf die Frage findet, was sie in der Liebe zu einem anderen Menschen sucht. Wir verbeugen uns voreinander als Zeichen des Dankes. Das gegenseitige Wohlwollen, das wir uns schenken, gibt mir inneren Frieden und ihr offener Blick sagt mir, dass es ihr ähnlich geht.

Nach dem Frühstück putze ich mein Zimmer und das Bad, ziehe das Bettzeug ab, packe meinen Koffer und bringe ihn zum Auto. Auf dem Rückweg gehe in den Zen-Garten, wo ich auf einem Stein verweile und den sprudelnden kleinen Brunnen betrachte, das Wasser ist ständig in Bewegung, nicht als Form fassbar, eine Aneinanderreihung von Eindrücken, die nie gleich sind. Ich höre das Plätschern als Thema mit Variationen unterschiedlicher Geräusche. Die Anlage des Gartens, die harmonisch aufeinander abgestimmte Anordnung der Pflanzen und Bäume, das geharkte Muster im Kiesbeet versetzen mich in einen Zustand der inneren Ruhe, Wachheit und Friedfertigkeit.

Richards Abschlussvortrag beschäftigt sich damit, wie wir unsere Erfahrungen in den letzten Tagen in den Alltag integrieren können. Es sei wichtig, sich im Tagesablauf Ruhepunkte zu schaffen, in denen wir uns der Reizüberflutung entziehen und unseren „inneren Computer“ herunterfahren. Eine  Atemmeditation, ein sich hineinhorchen von wenigen Minuten an einem ruhigen Ort helfe, den Stress im Arbeitstag besser zu bewältigen. Eine Übung gibt er uns mit auf dem Weg, wie wir Offenheit und Weite in uns herstellen können, deren Wirkung wir in einer Partnerübung erforschen. Wir sollen uns an eine Situation erinnern, in der wir offen und gegenwärtig waren und dafür eine entsprechende Gebärde finden. Welches Körpergefühl ist damit verbunden? Ich erinnere mich an den Sardinienurlaub, als ich am Abend der untergehenden Sonne entgegen schwamm. Ich hebe die Arme und breite sie weit aus, während ich die Wärme des Wassers spüre, das mich trägt und sehe das alles überstrahlende Gegenlicht über der Bergkette. Das Gefühl von Weite, Loslassen und Getragensein stellt sich ein – die Vergegenwärtigung einer schönen Erinnerung kann also eine starke Ressource im Alltag sein.

Auf diese Weise innerlich gestärkt ist die folgende Übung nun das Gegenprogramm, in der wir erfahren können, wie sehr uns schlechte Gedanken und Sorge körperlich und geistig verengen. Wir sollen uns eine Situation vorstellen, unter der wir leiden und unsere emotionalen Reaktionen darauf erforschen. Ich vergegenwärtige mir, wie ein Verleger mich hängen ließ, und ich nicht wusste, wie es mit dem Buchprojekt weitergeht. Sofort steigen die schlechten Gefühle wieder auf: Ohnmacht und Angst, dass das Buch, mit dem ich so viele Hoffnungen verbinde, überhaupt nicht mehr erscheint, jahrelange Arbeit für die Schublade, das Leiden daran, nicht wahrgenommen zu werden und nichts ändern zu können. Ich spüre sofort wie meine Brust sich verengt, ich Kopfschmerzen bekomme und schwitze, meine Stimmung, eben noch weit und offen, sich rapide wandelt. Ich bemerke, wie eng, verbissen und unfrei ich mit einem Mal bin, doch das Aussprechen und Benennen dieser Negativschleife hilft mir, nicht in dieser Stimmung zu versacken und meine Sehnsucht zu äußern: Loslassen können. Wie ich das umsetzen kann, habe ich in der vorherigen Übung erfahren: mich auf Heilsames besinnen.

Richard leitet nun das Abschiedsritual für die Gruppe ein. Wir gehen durch den Raum und verabschieden uns ohne Worte voneinander. Ich baue den Kontakt zu dem anderen über den Blick auf. Wir bleiben voreinander stehen, nicht zu nah, aber auch nicht zu weit, ich nehme den anderen mit meinem Blick in mir auf, ich habe keine Scheu, ihm direkt in die Augen zu schauen, mein Gegenüber auch nicht, ich spüre ein Lächeln auf meinen Lippen, sehe das des anderen. Wir verneigen uns gehen weiter, bei niemandem spüre ich ein Fremdeln, überall Annahme. Mancher springt mit den Augen hin und her, bis wir uns mit einem letzten ruhigen Blick verabschieden. Menschen, die mir am ersten Abend noch fremd waren oder verhärmt erschienen und zu denen ich eher den Kontakt mied, begegnen mir nun mit Offenheit und Wohlwollen, so wie ich ihnen auch, ich blicke in entspannte, ja liebevolle Gesichter, jeder scheint im Einklang mit sich und mit den anderen.

Das Schweigen wird nun gebrochen, in der Abschlussrunde sagt eine Teilnehmerin: „Jetzt erst fällt mir auf, was für schöne Menschen in dieser Gruppe sind. Jeder für sich ist schön.“

Buch-Tipp Einen Sommer lang

Beitrag Alter und Tod – werde Du selbst

Beitrag Glücksuche mit Stoa und Epikur

Beitrag Schicksals-Theater

Info: www.kerstin-maria-poehler.de