Walk away – Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst

Wie können Jugendliche heute erwachsen werden? Wer kann ihnen dabei helfen? Und was bedeutet es in unserer modernen Gesellschaft überhaupt, erwachsen zu sein? Diese Fragen sind entscheidend, werden aber in unserer Gesellschaft gar nicht gestellt. Fälschlicherweise besteht die Meinung, dass Jugendliche mit ihrem 18. Geburtstag gleichsam über Nacht erwachsen sind. Welch großer Irrtum! Denn dieses Datum markiert nur den rechtlichen Aspekt des Erwachsenseins – die Volljährigkeit. Aber sind unsere Heranwachsenden mit 18 Jahren dann auch psychisch, mental und charakterlich wirklich schon zu selbstverantwortlichen und selbständigen Erwachsenen geworden?

Gefährlicher gesellschaftlicher Irrtum

Für einen kleinen Teil von ihnen mag dies zutreffen. Viele von ihnen, die noch lange Ausbildungen oder ein Studium vor sich haben, verdienen noch nicht ihr eigenes Geld. Nicht wenige, besonders junge Männer, wohnen immer noch in der bequemen „Pension Mama“, selbst wenn sie schon 30 oder gar 35 Jahre alt geworden sind. Nur den Führerschein oder einen höheren Schulabschluss zu haben, ist noch keine Garantie für ein wirkliches Erwachsensein. Hier besteht in unserer Gesellschaft ein großes Unwissen und zudem ein bizarrer Widerspruch: Niemand sagt unseren jungen Leuten, was das Erwachsensein bedeutet und wie das Erwachsenwerden gehen soll. Beginnen sie aber nach Lehre oder Studium ihren Beruf, erwarten alle, dass sie dann erwachsen sind.

Das Erwachsenwerden geht aber nicht von selbst, es ist vielmehr ein jahrelanger, bisweilen auch gefährlicher Prozess, der die Jugendlichen in den Raum der Erwachsenen führen soll. Alle indigenen Völker wie etwa afrikanische Stämme, die Indianer Nord- und Südamerikas oder die Aborigines in Australien und Neuseeland wussten über diesen fundamental wichtigen Prozess Bescheid und führten für ihre Heranwachsenden in der Natur rechtzeitig geeignete Initiationsrituale – sogenannte „rites of passage“ – durch, bei denen die Jugendlichen bereits ansatzweise erleben konnten, was das Erwachsensein bedeutet: Alleinsein können, Ängste und Entbehrungen aushalten, sich wichtigen Fragen nach dem Woher und dem Wohin in ihrem Leben stellen, über die eigenen Stärken und Schwächen Bescheid wissen, in das eigene Innere der Persönlichkeit schauen, Verantwortung übernehmen können usw. 

Initiationsrituale – bedeutsamer Schatz indigener Völker an uns „Westler“

Die indigenen Völker wollten es nicht dem Zufall überlassen, dass ihre Jugendlichen durch langwierige eigene Erfahrungen, also durch „trial and error“, vielleicht mit der Zeit von selbst erwachsen werden würden. Dies hätte den Stamm gefährdet, der unbedingt kraftvolle und verantwortliche junge Leute für das Fortbestehen seiner Gemeinschaft brauchte – und nicht „Zwischenwesen“, die jahrelang weder Fisch noch Fleisch waren, zwar keine Kinder mehr, aber eben auch noch keine Erwachsenen.

Daher wurden Älteste aus der Gemeinschaft bestimmt, die für die Jugendlichen rechtzeitig herausfordernde Übergangsrituale organisierten, bei denen diese beweisen mussten, dass sie in der Lage waren, für eine bestimmte Zeit ganz alleine zu sein und für sich selbst zu sorgen. Nach einer gründlichen Vorbereitung in einem Jungen- oder Mädchen-Camp wurden die Initianden alleine und ohne Nahrung für mehrere Tage in die Wildnis hinaus geschickt. In dieser Zeit galten sie für alle Menschen als unsichtbar und durchlebten in der „Anderswelt“ der Natur eine Transformation: Durch eine Art von „psychischer Häutung“ wurde das alte, bisherige Kleid der Kindheit abgeworfen und das neue Gewand des Erwachsenen angezogen. Wenn sie dann nach dieser „Solozeit“ wieder zur Gemeinschaft zurückkehrten, wurde ein großes Dorffest veranstaltet, bei dem die Initianden für ihren Mut gewürdigt und gefeiert und anschließend von den Ältesten zu erwachsenen jungen Männern und Frauen erklärt wurden. Ab dann galten sie als Erwachsene mit allen Rechten und Pflichten.

In unserer modernen, informationstechnischen, rational und wissenschaftlich orientierten und auf Effektivität, Erfolg und Konsum gedrillten Gesellschaft besteht die irrige Meinung, dass solche Initiationsrituale heute völlig unnötig und nur etwas für die „Wilden“, also für indigene Stammeskulturen seien, die sowieso vom Aussterben bedroht sind. Zudem meint man, dass durch die beständige Erreichbarkeit über das Smartphone keine weiteren „Maßnahmen der Selbsterfahrung“ mehr nötig seien. Welch großer Irrtum! Welch grobe Fehleinschätzung! Dies kann ein Blick auf die heutige Lage der Jugendlichen in unseren westlichen Ländern sofort deutlich machen.

Gefährliche Ersatzrituale junger Menschen heute

Denn vor diesem Hintergrund der Initiations-Thematik werden manche Jugendphänomene wie gefährliche wilde Autofahrten auf Landstraßen oder gar in Städten, das berüchtigte Komasaufen, Schlägereien oder extremes Sportverhalten endlich verständlich: Gerade die starken und „wilden“ Jugendlichen, in denen seit der Pubertät eine überschäumende, kaum zu bändigende Kraft erwacht ist, wollen durch solche Aktionen auf sich aufmerksam machen und zeigen, dass sie nun eben keine „kleinen braven Kinder“ mehr, sondern Energie-geladene Erwachsene geworden sind. Es handelt sich also bei diesen Phänomenen bei rechter Betrachtung besonders bei jungen Männern um den verzweifelten Versuch, eigene Initiationsrituale zu setzen, um damit die in ihnen erwachte Männlichkeit zu zeigen, zu beweisen und ihnen Ausdruck zu verleihen. Sie wollen nun auch zu den Erwachsenen dazugehören!

Leider gehen solche Aktionen nicht selten schief: Manche von den jungen Leuten holen sich bei übermäßigem Alkoholkonsum, bei Schlägereien, mit Extremsportarten oder bei gefährlichen Auto- oder Motorradfahrten bleibende und nachhaltige Verletzungen, manche bezahlen diese „Selbstversuche der Initiation“ sogar mit ihrem Leben, nicht wenige gefährden mit ihren unverantwortlichen und waghalsigen Taten auch noch andere. Wir als Gesellschaft müssen uns daher zurecht vorwerfen, warum wir unseren Heranwachsenden auch weiterhin keine geeigneten Übergangsrituale ins Erwachsensein anbieten, sondern die Jugendlichen bei diesem so elementaren Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und Initiation vollkommen sich selbst überlassen. Unverantwortlich!

Ein anderes Phänomen ist sogar noch häufiger festzustellen, weil Übergangsrituale fehlen: Viele Jugendliche und junge Volljährige kommen jahrelang nicht in die Puschen, sind ewig mit Ausbildungen beschäftigt, hängen lustlos und sinnlos herum, versacken im Drogensumpf oder in der Computersucht und geraten nicht selten in eine Lebensdepression. Sie wissen nicht, wer sie eigentlich sind und was sie tun sollen. Die Lockdowns während der Corona-Krise haben diese schon vorher existierende Tendenz nur noch verstärkt und schonungslos ans Licht gebracht. Hier könnte ein angemessenes Initiationsritual Wunder bewirken. Denn durch den Aufenthalt in der Natur mit herausfordernden, aber eben von verantwortlichen Leitern kontrollierten Mutproben werden die jungen Leute von ihrem Computer oder von ihrem Smartphone weggeholt, mit denen heute viele gleichsam ihr Leben (nur noch virtuell!) verbringen. In der Gemeinschaft von gleichgesinnten Initianden und in der Schönheit der Natur werden sie mit dem realen Sein des Lebens konfrontiert und wesentliche Entwicklungsprozesse in ihnen angefacht. Sie haben die Chance, endlich zu sich selbst zu kommen.

Unsere Jugendlichen heute haben solche von Mentoren geleiteten Zeremonien, durch die sie die Kindheit verlassen und in die neue Lebensphase des Erwachsenen eintreten können, bitter nötig. In Europa aber hat man das Wissen um Initiation und um Initiationsrituale hinein in die nächste Lebensphase des Erwachsenseins verloren, von einigen Handwerkern einmal abgesehen, die nach Abschluss ihrer Lehre für drei Jahre und einen Tag lang „auf die Walz gehen“. In dieser Zeit dürfen sie sich ihrem Heimatort nicht mehr als 50 Kilometer näheren. Viele von ihnen verbinden diese „Walz-Zeit“ mit einer Reise in europäische Nachbarländer, manche sogar bis nach Kanada oder Australien. Wenn sie dann nach drei Jahren zurückkehren, sind sie erwachsen geworden. Denn sie haben meist Ängste und Phasen des Alleinseins ausgestanden, sie mussten alleine bei dem jeweiligen Arbeitgeber zurechtkommen, neue Freunde finden, allein für sich sorgen usw.

Das naturpädagogische Übergangsritual des WalkAway

Diese Möglichkeit des Auf-die-Walz-Gehens betrifft jedoch nur noch einen sehr kleinen Kreis junger Leute, von den immer beliebter werdenden Work-and-Travel-Reisen abgesehen, die aber meist erst nach dem Abitur stattfinden und die Volljährigkeit voraussetzen. Welche anderen Möglichkeiten gibt es, die man den Jugendlichen heute anbieten könnte, gerade wenn sie noch in die Schule gehen, um ihren Prozess der Persönlichkeitsentwicklung anzufachen, zu begleiten und zu bestätigen? Für diesen Prozess hat sich das naturpädagogische Übergangsritual des „WalkAway“ hervorragend bewährt, durch das 14- bis 18-jährige Jugendliche entscheidende Impulse zu mehr Selbstvertrauen, Selbständigkeit und Selbstverantwortung auf ihrem Weg hin zum Erwachsenwerden bekommen können.

WalkAway bedeutet: Gehe deinen Weg allein hinaus in die Natur, konfrontiere dich mit dir selbst und finde heraus, wer du bist und was du tun willst! Der WalkAway ist ein viertägiges Ritual mit drei Phasen. In der ersten zweitägigen Phase, die der Vorbereitung dient, werden die Jugendlichen täglich mehrmals mit konkreten Naturaufgaben allein in den Wald geschickt, um sie mit dem Ritual-Raum vertraut zu machen, vor allem aber, um sie auf die zweite Phase, die eigentliche Kernphase des WalkAway, einzustimmen: auf die sogenannte „Solozeit“.

Dazu wird jeder Junge und jedes Mädchen am Morgen des dritten Tages einzeln von den Ritualleitern in einer kleinen Zeremonie verabschiedet und anschließend allein in den Wald geschickt – ohne Essen, ohne Zelt und vor allem ohne Smartphone. Für 24 Stunden gelten die Initianden jetzt als unsichtbar und vermeiden daher jeden Kontakt mit Menschen. Mit dabei haben sie nur fünf Liter Wasser, eine Regenplane, eine Matte, einen Schlafsack, einen kleinen Rucksack mit Wechselwäsche und ein Tagebuch, um sich alle Gedanken und Gefühle während dieser „Auszeit in der Natur“ notieren zu können. In dieser „Anderswelt“ der Natur und des Alleinseins sind die Jugendlichen nun sich selbst und den Wesen der Natur ausgesetzt: den eigenen Dämonen, Ängsten, Gedanken und Gefühlen ebenso wie Wind, Wetter, Hitze und Kälte sowie den Tieren, Pflanzen und Landschaftsformationen, denen sie nun begegnen können.

Jetzt sind sie ganz auf sich gestellt und mit sich allein – Chance und Risiko zugleich, in jedem Fall aber eine sehr ungewohnte Lebenssituation wie noch nie zuvor. Dadurch werden bei vielen der Teilnehmer in der Regel wesentliche Grundfragen unseres Menschseins ausgelöst: Wer bin ich? Woher komme ich? Was soll ich tun? Welche Stärken und Schwächen habe ich? Wie kann ich der Gemeinschaft dienen? Welchen Beruf soll ich einmal ergreifen?

Am Morgen des dritten Tages beginnt dann die dritte Phase: die „Rückkehr und Wiedereingliederung in die Gemeinschaft“, wenn die Jugendlichen im Beisein der angereisten Eltern, Geschwister und Angehörigen aus dem Wald getrommelt und anschließend rituell wieder sichtbar gemacht werden. Nach dem Fastenbrechen mit einer Breze und einer Tasse Kräutertee wandern alle zum nahegelegenen Seminarzentrum, um von den jungen Initianden nacheinander die Geschichten „von allein da draußen im Wald“ zu hören. Stundenlang kann man jetzt eine Stecknadel fallen hören, weil alle gespannt diesen Erlebnissen der jungen Leute, sowie dem anschließenden bestärkenden Feedback von Leitern und Eltern lauschen.

Als Leiter wird man jetzt Zeuge, wie sich in den Familien ein fundamentaler Schritt ereignet: Wenn im Beisein der Eltern und mit deren ausdrücklicher Zustimmung bei den jungen Initianden soeben ein Stück Kindheit stirbt und ein wesentlicher Schritt zu mehr Selbständigkeit und Selbstverantwortung hin zum Erwachsenen geschieht. Dieser Vorgang ist so ergreifend, dass nicht wenige Eltern vor allen zu weinen beginnen, denn sie wissen um die Bedeutung dieses Initiationsvorgangs bei ihren Kindern, die ab jetzt nicht mehr dieselben sind wie die, von denen sie sich vier Tage zuvor verabschiedet hatten. Etwas Wesentliches hat sich in ihren groß gewordenen Kinder verändert.

Sind alle Geschichten erzählt und „gespiegelt“, endet das ganze WalkAway-Seminar mit einem feierlichen und fröhlichen Essen, das die Eltern mitgebracht haben. Mir als WalkAway-Leiter bleibt nur noch, meinen großen Respekt zu bekunden vor allen Jugendlichen, die bei den jahrelangen WalkAway-Seminaren den Mut hatten, sich dieser elementaren Zeremonie in der Natur zu stellen und so einen großen Gewinn für ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung auf dem Weg zu sich selbst zu erringen. Chapeau!

von Peter Maier, Gymnasiallehrer, Initiations-Mentor, Autor

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Beitrag Pädagogik und Empathie
Beitrag Medizinwanderungen – Auszeit in der Natur
Beitrag Schule und Spiritualität

Literatur:

Peter Maier: „WalkAway – Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst“ (Softcover)

ISBN: 978-3-757560-66-9 (16,99 €, Epubli Berlin 2023, 1. Auflage)

eBook:

ISBN: 978-3-757560-28-7 (9,99 €, Epubli Berlin 2023)

 

Peter Maier: „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“ (Softcover)

Band I: Übergangsrituale“

ISBN 978-3-86991-404-6 (18,99 €, Epubli Berlin)

eBook:

ISBN: 978-3-752956-93-1 (11,99 €, Epubli Berlin)

Peter Maier: „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“

Band II: Heldenreisen.“

ISBN 978-3-86991-409-1 (19,99 €, Epubli Berlin)

eBook:

ISBN 978-3-753176-25-3 (12,99 €, Epubli Berlin)

Nähere Infos und Buchbezug: www.initiation-erwachsenwerden.de und

                                                    www.alternative-heilungswege.de