Lebenssinn und Berufung

Im Interview mit Quell erklärt die Expertin für Berufung Ursula Maria Lang, was es bewirkt, wenn man seine Talente einsetzt und tut, was in einem steckt.

Quell: Welchen Stellenwert hat aus Ihrer Sicht das Thema Berufung für unsere Gesundheit?

Ursula Maria Lang: Menschen, die ihre Berufung leben, leben aus meiner Sicht in ihrem naturgegebenen Optimum. Man könnte es vergleichen mit einem intakten ökologischen System. So wie in der Natur jede Pflanze und jedes Tier eine natürliche Art der Entfaltung und eine ökologische Aufgabe hat, so ist auch jeder Mensch einzigartig und hat mitgebrachte Anlagen und Aufgaben. Je mehr der Mensch das lebt und verwirklicht, was in ihm steckt und sich nicht gegen seine Natur unter Druck und Anstrengung verbiegt, desto natürlicher und einfacher wird ihm das eigene Tun gelingen. 

Quell: Gibt es medizinische oder psychologische Erkenntnisse dazu?

Ursula Maria Lang: Die Zahl der berufsbedingt psychisch Erkrankten ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten extrem gestiegen. Waren die Patienten früher überwiegend wegen Erkrankungen des Bewegungsapparates in den Rehakliniken, so sind die Gründe für eine Überweisung heute überwiegend psychische Erkrankungen, allen voran jobbedingte. Dies liegt aus meiner Sicht unter anderem an der zunehmenden Entfernung von unserem in Jahrtausenden entstandenen natürlichen Tagesablauf und Umfeld. Anstatt Natur, Bewegung und Abwechslung zu haben, sitzen wir acht Stunden hinter dem Computer, in übertechnisierten Räumen und müssen unsere Psyche und Gehirn überanstrengen, während die anderen Sinne und die Bewegung extrem zu kurz kommen. 

Für genauso ausschlaggebend halte ich die Sinnentleerung. Menschen arbeiten zum Beispiel in technisierten, automatisierten und kleinteiligen Prozessen, deren Sinn sie oft nicht mal verstehen. Anstatt einbezogen zu werden, steigt der Druck von oben und es werden überwiegend vorgegebene Leistungen gefordert. Dies macht Menschen auf Dauer unzufrieden und kann sogar jobbedingte psychische Erkrankungen hervorrufen.

Quell: Was sind die Erkenntnisse aus den Langlebenskulturen zu Berufung und Gesundheit?

Ursula Maria Lang: Menschen, die in den Blue Zones (siehe auch Randspalte, Anmerkung der Redaktion) leben, befassen sich rein kulturell schon in der frühen Kindheit mit einem natürlichen Leben und dem Leben nach naturgegebenen Kräften und Anlagen. Dazu zählt allem voran unsere Schöpferkraft, da braucht man nur ein Kind zu beobachten. Der Mensch möchte etwas erschaffen, kreieren, etwas Schönes und Sinnvolles tun. 

Eine weitere wichtige Säule, um gesund alt zu werden, ist es, wertvolle Ziele zu haben, etwas Sinnvolles zu tun und sich für etwas zu engagieren, welches auch Anderen nutzt. Die Folge im Zusammenleben in den Langlebenskulturen ist daher auch die soziale Gesundheit. Denn wenn jeder etwas Sinnvolles für andere tut, bekommt jeder auch viel Positives zurück und erhält natürlich auch selber etwas aus der Gemeinschaft. 

Quell: Was sind gesundheitliche Signale, die dazu auffordern, sich auf den Weg in Richtung seiner Berufung zu machen? 

Ursula Maria Lang: Typische berufliche Stress-Signale kommen aus dem Inneren: Das Alltägliche fängt an, uns zu nerven, wir fühlen irgendwie eine Leere in uns, sind oft oder ständig überreizt. Viele Menschen fragen sich dann häufiger: „Welchen Sinn hat mein Leben eigentlich?“ In der Psychologie weiß man, dass sich oft in der Lebensmitte durch eine seelische Krise zeigt, dass der Mensch noch etwas anderes leben möchte. Das ist ein entscheidender Hinweis! Denn wenn wir meilenweit von einem Beruf entfernt sind, der zu uns passt, spüren wir dies als seelisches Unwohlsein, als Sinnleere, so, als ob uns etwas fehlt, wir sprechen von einer Art Midlifecrisis. Spätestens wenn sich psychische Belastungs-Symptome zeigen, sollte man sich mit seiner Berufungsfindung beschäftigen. Und sich vielleicht sogar professionelle Hilfe dabei holen.

Quell: Wie kann man seine Berufung finden?

Ursula Maria Lang: Nach meiner Erfahrung ist die Berufungsfindung ein tiefgehender und umfassender Prozess der Selbstreflektion und der Reflektion der eigenen Lebensbiografie. Es gilt heraus zu finden, bei welchen Tätigkeiten man quasi „man selbst“ ist, also welche Tätigkeiten einem leicht fallen, Spaß machen und der eigenen Natur und Persönlichkeit entsprechen. Dazu gehört auch das Ergründen der eigenen Potenziale, denn teils können oder konnten wir Stärken und Talente kaum oder zu wenig leben, als dass wir sie als Teil unserer Persönlichkeit und beruflich relevanten Stärken identifizieren können. Ein weiterer, schon genannter sehr wichtiger Punkt ist herauszufinden, wofür man sich engagieren möchte, welche Ziele man verfolgen will, um etwas Sinnvolles und Wertvolles zu tun. Denn fragt man Menschen an ihrem Lebensende, so berichten die allermeisten Menschen, dass sie gerne noch Zeit hätten, ihrem Leben einen tieferen Sinn zu geben und etwas Sinn- und Wertvolles zu hinterlassen. In der Berufungsfindung stellt man sich diese Frage Gott sei Dank früher. 

Quell: Was ist Ihr persönlicher Rat an unsere Leser?

Ursula Maria Lang: Es lohnt sich wirklich, sich mit seiner Berufung zu befassen, egal in welchem Lebensabschnitt und Lebensalter man sich gerade befindet, will sagen, es ist nie zu spät. Hierzu möchte ich wieder den Vergleich mit der Natur heranziehen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass jeder seinen Platz und seine Aufgabe im Leben hat. Wir brauchen nur herauszufinden, was unserer Natur am meisten entspricht und wie wir uns dadurch stärken und in unsere Kraft bringen können. Immer wieder bin ich erstaunt und berührt, wie vergleichsweise schnell Menschen aufblühen und über sich hinauswachsen, wenn sie ihre Berufung gefunden haben und leben. Schauen wir uns Menschen an, die etwas gefunden haben, was sie tief innerlich erfüllt, was sie antreibt etwas zu bewegen, dann wundern wir uns oft über die erstaunlichen Kräfte, die solche Menschen aufbringen können. Berührend sind auch Menschen, die nach Schicksalsschlägen im Anschluss dadurch wieder auf die Beine kommen, indem sie endlich das tun, was sie erfüllt. Denn eines der schönsten Dinge, die ein Mensch über sein Leben sagen kann, ist der Ausspruch: „Ich bin erfüllt!“ Erfüllt mit dem, wie ich bin, was ich kann, und was ich tun möchte und schließlich, erfüllt mit dem, was ich tue – erfüllt mit meiner Berufung.

Blue Zones

Wo Menschen viel älter werden 

Die so genannten „Blue Zones“ sind Gebiete der Langlebens-Kulturen, wo Menschen viel älter werden und gesünder sind, als in allen anderen Ländern der Welt. Neben einer gesunden, überwiegend pflanzenbasierten Ernährung und viel Bewegung haben die Menschen in den Blue Zones vor allem eines gemeinsam: Lebensfreude und einen Lebenssinn.

In Costa Rica nennt man diesen Königsweg zu einem erfüllten Leben zum Beispiel „Plan de Vida“ (Lebenplan);  in Okinawa „Ikigai“ (Lebensziel).

Expertin fürBerufung

Ursula Maria Lang, Magister der Kommunikationswissenschaften, entwickelte vor rund 20 Jahren die nach ihr benannte Methode Berufungsberatung. Sie bildete seither mehr als 40 Berufungsberater/innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus.
Ursula Maria Lang hält Vorträge über Berufung und schreibt darüber. Parallel leitet sie die St. Leonhards Akademie und engagiert sich hier für das Spektrum ganzheitlicher Gesundheit.

www.berufungsberatung.com

www.st-leonhards-­akademie.de

Titelfoto: Depositphotos.com

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6. August 2021