Klarer Sehen

Schauen was die Augen brauchen

Interview mit der Augenheilkunde-Expertin Marianne Wiendl

Marianne Wiendel ist Gründerin und Inhaberin der Sehschule „SEHAkademie am Starnberger See”. Seit 2001 betreibt sie in Starnberg ihre Heilpraxis für ganzheitliche Augenheilkunde. Sie ist Heilpraktikerin, Dipl. Informatikerin und Autorin, sowie Begründerin der Systemischen Augentherapie.

Quell: Bei allen Vorteilen der Digitalisierung zeigt sich in Zeiten von Homeoffice und Homeschooling bei vielen von uns eine enorme Belastung der Augen. Was genau passiert mit unseren Augen durch diese einseitige Belastung?

Wiendl: Lang andauernde Naharbeit führt bei vielen zu Augenbeschwerden und fördert die Kurzsichtigkeit, und eigentlich wird daher empfohlen, maximal 30 Stunden pro Woche am Bildschirm zu arbeiten. Dieses Limit haben die meisten von uns durch den Zwang zu dieser einseitigen Arbeit längst überschritten.

Quell: Warum verkümmert dadurch die Fähigkeit zur Weitsicht?

Wiendl: Unser Körper verfährt ökonomisch mit seinem Angebot. Was nicht be- und genutzt wird, bekommt geringere Priorität. So verkümmert die Fähigkeit, in der Ferne scharf sehen zu können. Und gleichzeitig leidet durch die permanente Überlastung das scharfe Sehen im Nahbereich.

Quell: Sind davon alle Altersgruppen betroffen?

Wiendl: Ja. Werden Kinder beispielsweise – wie in Asien schon länger üblich – ganztags mit Bildschirmarbeit belastet, führt dies zu solcher Überlastung im Nahbereich, dass dort bereits heute über 90 % der Schulkinder Brillenträger sind. Bei Kindern wird hierzulande üblicherweise mit einem Sehtest vor Schuleintritt überprüft, ob das Auge ausgewachsen ist. Ist dies nicht der Fall, wird nicht selten eine Brille verordnet, statt dem Kind noch Zeit zugeben, bis es im Nahbereich fokussieren kann.

Quell: Bedeutet dies dann unausweichlich Zug um Zug eine immer stärkere Brille?

Wiendl: Die Brille ist eine externe Korrektur, die in vielen Fällen unumgänglich ist. Aber das Auge verfügt grundsätzlich auch über einen gewissen Spielraum, sich mittels Sehtraining und Achtsamkeit selbst zu justieren. In der Sehakademie führen wir Sehtrainer und Menschen mit Augenproblemen an die Möglichkeit heran, über Energiearbeit und spielerisches Training den Augen etwas Gutes zu tun.

Quell: Spielerisches, also nicht leistungs- oder ziel-orientiertes Sehtraining?

Wiendl: Ja, diese Erfahrung habe ich in den vielen Jahrzehnten meiner Arbeit gemacht: wer sich selbst unter Druck setzt oder unter Druck gesetzt wird, seine Dioptrien in einem bestimmten Zeitraum zu verbessern, der tut sich schwerer beim Neu- und Anders Sehen lernen. Wer Freude an den Seh-Spielen entwickelt, wird auch spielerisch Erfolge erleben. Das funktioniert in jedem Alter besser. Das absichtslose Tun ist das Geheimnis des Entdeckens neuer Fähigkeiten, das weiß man aus der Entwicklungs- und Neurowissenschaft. Mit unseren „Schukispielen“ versuchen wir Schulkindern spielerisch zu helfen, ihre Augen positiv zu beeinflussen. Diese stellen wir als Anregungen für Lehrer und Erzieher online zur Verfügung. Aber auch für die Erwachsenen hat das Online-Sehtraining ganz bewusst einen spielerischen, eher genussorientierten Charakter.

Quell: Wie funktioniert Online-Sehtraining?

Wiendl: Gerade im Kontext des digitalisierten Arbeitsumfelds lässt sich online vieles praxisnah vermitteln. Bei unserem ganztägigen Seherlebnis-Tag haben wir beispielsweise alle 20 Minuten aktivierende Sehtraining-Übungen eingebaut. Am Ende des Tages bestätigten uns alle Teilnehmer, dass sie sich trotz der intensiven Zusammenarbeit über den Bildschirm durch diese kurzen eingeschobenen aktiven Seh-Trainingseinheiten ständig wieder neu erfrischt gefühlt haben. Die Vision der Sehakademie ist, genau diese Arbeitsmethode für Firmen anzubieten, sodass zum Beispiel auch in Zoom-Meetings bewegte Seh-Pausen ein fester Programmbestandteil sind. Denn viele Arbeitnehmer gönnen sich ja interessanterweise im Homeoffice weniger Pausen als im Büro oder Klassenzimmer. Mir liegt daran, die Kultur der erholsamen Unterbrechungen in die home-Arbeitsbereiche zu tragen, wo kein Arzt, Psychologe oder Betriebsrat auf die einzelnen Schüler oder Mitarbeiter aufpassen kann. Erfahrungsgemäß ist es viel effektiver und nachhaltiger, dieses Seh-Training nicht von der anstrengenden Naharbeit mit digitalen Medien abzukoppeln, sondern es vielmehr in immer wiederkehrenden Pausen zu integrieren.

Quell: Können Sie uns Beispiele nennen?

Wiendl: Ganz einfache Übungen sind das Palmieren, das Öffnen des Blickfelds und der Nah-Fern-Schwung. (Anmerkung der Redaktion: Die genauen Beschreibungen dieser und weiterer Übungen finden Sie in unserem Artikel „Den Augen was Gutes tun„)

Quell: Was ist bei allen Übungen noch zu beachten?

Wiendl: Weil der Sehsinn so komplex ist, empfehlen wir ganzheitliches Sehtraining, in das wir auch Ganzkörper-Übungen mit einbauen. Augen-Übungen wirken umso besser in Kombination mit einer entspannende Kopf-Nacken-Schulter-Lockerung

Quell: Gibt es – neben dem Seh-Training als solche noch weitere Faktoren für gesunde Augen?

Wiendl: Ja, für gesunde Augen sind natürlich noch viele weitere Faktoren relevant, beispielsweise das ausreichende Trinken, eine augenstärkende Ernährung und die tägliche Dosis natürliches Licht, das durch keine anderen „Licht-Tricks“ ersetzbar ist.

Quell: Was ist das Besondere am natürlichen Licht?

Wiendl:  Spezielle Tageslicht-Lampen und Filter auf Handys sind Beispiele für Hilfsmittel, natürliche Lichtverhältnisse nachzuempfinden. Das natürliche Licht ist aber auch zusätzlich Vitamin D Spender ganz besonderer Qualität für die Gesundheit unserer Augen. Um die Progredienz der Kurzsichtigkeit zu verlangsamen, sind mindestens zwei Stunden natürliches Licht pro Tag sind empfehlen, so die Ergebnisse einer Studie aus Taiwan.

Quell: Worauf ist bei der Ernährung zu achten?

Wiendl: Farbenfrohes frisches Obst und Gemüse: ist Labsal für unsere Augen, insbesondere für die Netzhaut, auch Retina genannt. Doch auch andere Strukturen im Auge, wie Linse, Hornhaut und Bindehaut benötigen eine ausreichende Zufuhr an Vitaminen. Der Sehpurpur, eines der Sehpigmente in unserer Netzhaut, der für das Hell-Dunkel-Sehen verantwortlich ist, liebt – wie sein Name schon sagt – alles Rote, gerade auch Beeren wie die Aronia. Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie wir dem Wunderwerk Auge etwas Gutes tun können. (Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag zum Augenschmaus-Salat)

Quell: Warum ist das ausreichende Trinken so wichtig?

Wiendl: Trockene Augen sind weniger leistungsfähig. Und das Trinken befeuchtet auch unsere Augen. Je lebendiger das Wasser, umso lebendiger die Augen. Durch das Blinzeln wird dann die Tränenflüssigkeit im Auge verteilt und auch mit jedem Lidschlag die Produktion der Tränenflüssigkeit mehr aktiviert. Doch die Häufigkeit der Lidschläge pro Minute beim Blinzeln reduziert sich schlagartig, wenn wir auf den Bildschirm starren: Blinzeln wir normalerweise 20-30mal pro Minute, sind es vor dem PC nur ein bis zwei Lidschläge in diesem Zeitraum.

Quell: Warum ist das so?

Wiendl: Beim Starren auf den Bildschirm lässt uns Computerarbeit im wahrsten Sinne erstarren. In einem starren Blick weitet sich die Pupille, was kontraproduktiv für das Nah-Scharfsehen ist. Das Erstarren passiert auch in der Atmung. Je mehr wir uns konzentrieren, halten wir den Atem an, dabei kann sich fast jeder selbst ertappen. Starrer Blick und Atemlosigkeit – das sind Merkmale eines Toten. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir lebendige Menschen sind. Und das Klare Sehen ist etwas Ganzheitliches, das wir nicht vom Körper, Geist und Seele abkoppeln können.

Quell: Klar sehen als Pars pro Toto für unser ganzes Ich?

Wiendl: Nicht ohne Grund gibt es die Redewendungen: „seinen Horizont erweitern“, „das Blickfeld weiten“ oder „über den Tellerrand schauen“, wenn es um Flexibilität auf allen Ebenen geht. Wenn wir zu viel, zu lang, zu einseitig auf eine Sache starren, leben wir nur in dieser Polarität.

Quell: Also den Fokus verändern?

Wiendl: Genau, es geht noch um viel mehr als um die Beweglichkeit und Flexibilität unserer Augen. Wenn wir uns immer nur auf einen Fokus reduzieren, verlieren wir den Blick für andere Wege rechts und links. Wir konzentrieren uns nur auf einen Weg statt uns zu zentrieren und aus der Zentrierung aus unserer Mitte das Potential des 360 Grad Blickes um uns herum möglichst weit auszudehnen. Durch das Weiten des Blickfelds und das Schärfen des Sehsinns ergeben sich bei unseren Sehtrainings auch oft in anderen Lebensbereichen neue Blickwinkel für unsere Teilnehmer. Dies zu beobachten, erfüllt mit besonderer Freude.

 Quell: Ein schönes Schlusswort. Danke für das Gespräch, Frau Wiendl.

Mehr Informationen über die Sehakademie: https://sehakademie.de

Bildnachweis: Marianne Wiendl bei einer Augen-Übung Foto von SEHAkademie am Starnberger See

14. Mai 2021