New York könnte sich in Sachen Obst und Gemüse selbst versorgen – durch Gewächshäuser auf den Dächern der Wolkenkratzer. Christine Mattauch hat vor Ort recherchiert, was es mit der visionären Idee auf sich hat.

New York im Jahr 2030: Jeder Einwohner erreicht in maximal zehn Gehminuten einen Park. In Manhattan sind die Straßen dank hoher Abgaben nahezu autofrei, dafür bewegen sich Schnellbusse auf eigenen Spuren, und die U-Bahn ist komplett modernisiert. Mehr als eine Million Bäume sind gepflanzt worden. Die klimaschädlichen CO2-Emissionen wurden um 30 Prozent reduziert. New York, eine grüne Großstadt; New York, die erste nachhaltige Metropole des 21. Jahrhunderts. Das ist die Vision von Bürgermeister Michael Bloomberg.
Ted Caplow ist nur ein normaler Einwohner von New York, aber auch er hat eine Vision für die Stadt, und die passt zufälligerweise gut in Bloombergs Konzept. Caplow geht es um die Dächer von New York, Tausende von Flachdächern, die weitgehend ungenutzt sind. Wenn es nach Caplow geht, sollen auf ihnen Tomaten, Gurken, Salate und Paprika wachsen. Großstadtplantagen sozusagen. „In Amerika legt Supermarktgemüse im Durchschnitt 2500 Kilometer zurück, bis es im Kühlschrank des Verbrauchers landet“, sagt er. „Wir kaufen Paprika aus Mexiko und essen Tomaten aus Kalifornien. Dabei können wir diese Produkte sehr effizient über unseren Köpfen anbauen.“Nach Expertenschätzungen hat New York rund 5000 Hektar Dachfläche. „Das Gemüse, das man dort anbauen kann, ernährt die gesamte Stadtbevölkerung“, sagt Caplow.
Das klingt genial und zugleich ein bisschen versponnen. Doch im Unterschied zu Bürgermeister Bloomberg, der viel von seiner Vision redet, aber noch wenig umgesetzt hat, hat Einwohner Caplow zumindest schon mal angefangen. Seine erste Gemüseplantage hat er allerdings nicht auf einem Dach errichtet, sondern auf einem Boot auf dem Hudson River, dem „Science Barge“ (Wissenschaftskahn), weil er dort besser die vielen Menschen empfangen kann, die sich für seine Idee interessieren.

Gewächshaus auf dem Hudson River
Mit dem gläsernen Treibhaus, dem zum Aufenthaltsraum umgebauten Transportcontainer, den surrenden Windrädern und den Sitzgruppen mit hellgrünen Sonnenschirmen sieht die Barge aus wie eine Mischung aus Forschungsstation und Strandcafé. Der Eindruck ist auch gar nicht so falsch, denn zum einen wird hier der Betrieb des Treibhauses kontrolliert und ausgewertet, zum anderen werden Schulklassen und Touristengruppen über die Zusammenhänge zwischen Landwirtschaft und  Klimawandel sowie über die Vorteile nachhaltiger Anbaumethoden aufgeklärt. Und sie können das, was sie theoretisch erfahren, direkt besichtigen.
Im vorderen Raum des Gewächshauses stecken Salat- und Basilikumsetzlinge dicht an dicht in meterlangen Plastikbalken. Durch Löcher im Boden erreichen die Wurzeln ein schmales Bassin, durch das ständig Wasser rinnt. Erde gibt es auf dem Science Barge nicht. „Die Pflanzen bekommen trotzdem alles, was sie brauchen. Sämtliche Nährstoffe befinden sich im Wasser“, sagt Biologin Jennifer Nelkin, die für das Gewächshaus verantwortlich ist. „Das System ist sehr effizient. Gegenüber dem herkömmlichen Anbau brauchen die Pflanzen sieben Mal weniger Platz und vier Mal weniger Wasser.“ Spätestens jetzt ist klar, dass hier keine Romantiker am Werk sind, sondern rational denkende Wissenschaftler. Sechs Vollzeitkräfte sind es insgesamt, hinzu kommen ehrenamtliche Mitarbeiter.
Im hinteren Teil des Gewächshauses baut die Crew Tomaten und Gurken an. „Wir ernten pro Tag 25 Gurken“, sagt Jennifer Nelkin stolz. Die Jahresausbeute wird 550 bis 720 Kilogramm pro Quadratmeter betragen. Was passiert mit der Nahrung, die auf dem Kahn produziert wird? „Die geht an Obdachlose“, sagt Jennifer Nelkin. Jeden Abend holen Mitarbeiter von Suppenküchen das frische Gemüse ab.
Der Science Barge ist energieautark und klimaneutral. Den Strom erzeugen eine Windturbine und 18 Solarpaneele, Überschüsse werden in einer Batteriebank gespeichert. Reicht das nicht aus, kann auch noch ein Biodiesel-Generator angeworfen werden. Die Temperatur im Treibhaus wird mit Hilfe von Wasserpumpen und Ventilatoren reguliert. Das Wasser für die Pflanzennahrung ist großenteils Regenwasser, das aufgefangen und in Tanks gespeichert wird. Das alles wäre auch auf New Yorker Dächern machbar, meint Caplow. Zu den Voraussetzungen zählen eine gewisse Mindestgröße der Dachfläche – „auf dem Dach eines Einfamilienhauses lohnt sich das nicht“ – und eine kostengünstige Betreuung, etwa durch eine Hausgemeinschaft oder durch einen Hausmeister.

Großmutters Erbe für einen Kahn
Um seine Idee zu verwirklichen, hat Caplow nach seinem Studium die gemeinnützige Organisation „New York Sun Works“ gegründet, die den Kahn betreibt. Caplow fungiert als Geschäftsführer, doch von Haus aus ist er Umweltingenieur. Er studierte an den Elite-Universitäten Harvard und Princeton und an der New Yorker Columbia Universität, an der er seinen Doktor machte. Mit dieser Ausbildung hätten ihn viele Unternehmen gern eingestellt, doch Caplow hatte eigene Pläne.
Im Jahr 2004 hatte er in Ohio ein Versuchsprojekt besichtigt, das zeigen sollte, wie man Gemüse mit Hilfe intelligenter Treibhaustechnik effizienter als in der konventionellen Freilandwirtschaft produzieren kann. Die Idee ließ ihn nicht mehr los. Als seine Großmutter starb und ihm 250.000 Dollar hinterließ, gründete er New York Sun Works und machte sich auf die Suche nach einem Kahn.
Der 50 Jahre alte frühere Lastenkahn war vergleichsweise schnell gefunden, viel länger dauerten die Verhandlungen mit den Behörden über die Genehmigung des Standorts. Caplow wollte Publizität für sein Anliegen und deshalb an öffentlich zugänglichen, belebten Piers ankern. Die Amtsträger, denen das Projekt suspekt war, mauerten mit der Begründung, es handele sich rechtlich nicht um ein Boot, sondern um ein Gebäude. Aber schließlich lenkten sie ein. Vielleicht half da sogar die Vision des Bürgermeisters. Seit Juni 2007 jedenfalls ankert der Kahn alle zwei Monate an einem anderen der Piers rund um Manhattan. Nach der Saison 2008 will Caplow sie verschenken und sich anschließend mit voller Kraft für sein Dachplantagen-Konzept einsetzen. Die Daten, die seine Kollegen und er während des Betriebs des Science Barge gesammelt und ausgewertet haben, werden ihm dabei helfen.

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