Vielfalt bewahren

Wer kennt sie noch, die guten alten Apfelsorten wie das Rheinische Seidenhemdchen oder den Reichtragenden vom Zenngrund? Sie sind allesamt aus Landschaft und Gärten verschwunden, weder am Obststand noch in der Baumschule mehr zu finden. Drei Viertel unserer alten Obst- und Gemüsesorten gelten bereits als verschollen. Nicht weniger als 554 heimische Apfel-, 113 Kirsch- und 97 Birnensorten gelten zudem als gefährdet. Damit verschwindet ein altes Kulturgut, wichtige Grundlage unserer Ernährung, unbemerkt. Wie konnte es dazu kommen? Sind doch die alten Sorten dem modernen Plantagenobst in vieler Hinsicht überlegen. Dieses wurde meist für industriellen Anbau und Handel so optimiert, dass es für Garten und Gaumen kaum noch taugt. Gezüchtet auf schnellen, gleichförmigen Höchstertrag haben Attribute wie Transport- und Lagerfähigkeit, Optik und Verarbeitungseigenschaften Werte wie Geschmack und Bekömmlichkeit, Baumgesundheit, Standfestigkeit oder Vielfalt längst verdrängt.

Nur noch ein Dutzend Apfelsorten 

Früher wurden allein in Deutschland mehr als 3.000 Apfelsorten kultiviert. Heute spielen nur noch rund ein Dutzend Apfelsorten eine wirtschaftliche Rolle. Zudem stammen durch starke genetische Verengung der Züchtung seit den 1930er Jahren nahezu alle modernen Apfelsorten von lediglich einer Handvoll Elternsorten ab, vorneweg Golden Delicious, Jonathan und Cox Orange. Fatalerweise befeuerte zeitgleich die rasante Industrialisierung der Landwirtschaft den Glauben, mit chemischer Behandlung könne man alles erreichen. So vernachlässigte man bei der Zuchtauswahl das Kriterium der Baumgesundheit – gilt doch Golden Delicious als hoch anfällig für Schorf und Apfeltriebsucht, Jonathan für diverse Blattschäden und Mehltau und Cox Orange für Triebschorf, Obstbaumkrebs sowie Blattläuse. Wen wundert‘s, dass in heutigen Ertragsplantagen solche Schwächen durch häufige Spritzungen ausgeglichen werden müssen.  Eine Lösung sind alte Sorten, die noch natürlich resistent sind gegen Krankheiten und Schädlinge. Oft bieten sie ganz nebenbei die gesünderen Früchte, viele sogar bekömmlich für Apfelallergiker. So enthielt der bewährte Finkenwerder Herbstprinz bei Untersuchungen der Hochschule Geisenheim mehr als dreimal so viele gesundheitsfördernde Polyphenole (sekundäre Pflanzenstoffe) wie die hippe Pink Lady. 

Ein einziger Baum kann eine Sorte retten

Nicht nur die Landwirtschaft steht in der Verantwortung – der Wert der privaten Gärtner für den Erhalt kann gar nicht genug geschätzt werden. Wurde doch manch längst verloren geglaubte Sorte in Form eines einzigen Baumes in einem alten Garten wiederentdeckt und gerettet. Und jeder einzelne Baum zählt, braucht es doch zum Bewahren der Sorte immer den lebendigen Baum, dessen Eigenschaften durch Veredelung weitergetragen werden müssen – Sämlinge prägen diese, mit wenigen Ausnahmen, nicht aus. Bevor man mit gezielter Züchtung begann, entstand über die Jahrhunderte hinweg durch Auslese besonderer Zufallssämlinge unsere Sortenvielfalt. Die Weiterkultivierung geschah von Generation zu Generation durch Schneiden von Reisern am Mutterbaum und deren Veredelung auf Wurzelunterlagen. Bis heute werden die Sorten so erhalten. Alle Bäume einer Sorte, egal, wie viele Millionen es auch sein mögen, sind letztlich genetische Kopien ein und desselben Baumes. Umgekehrt gilt leider auch: Stirbt der letzte Baum seiner Sorte, ist diese unwiederbringlich verloren. Daher ist es so wichtig, welchen Baum Sie in ihren Garten pflanzen. Denn damit bietet sich die Chance, eine bedrohte Sorte über die Zeit zu retten. QC60E02  

Der Weg zum richtigen Obstbaum

1. Welche Art und Sorte wähle ich?

Die Entscheidung für einen Obstbaum ist eine Entscheidung für die Zukunft – es lohnt sich, in Ruhe auszuwählen. Informationen zu guten, bewahrenswerten Sorten finden Sie beim Stöbern in der Fachliteratur oder im Gespräch mit Experten und Liebhabern. Man findet sie auch beim Pomologen-Verein, der sich europaweit um den Erhalt alter Sorten kümmert, Veranstaltungen wie Apfeltage und Reiserbörsen organisiert und gute Baumschulen in ihrer Region empfehlen kann. Eine weitere Informationsquelle ist www.bund-lemgo.de, die Homepage der BUND Ortsgruppe Lemgo. Sie bietet unter anderem eine Tabelle allergikergeeigneter Apfelsorten. 

2. Welche Ausgangslage bietet mein Garten?

Ob sonnig oder schattig, trocken oder eher feucht, groß oder klein, angepasst an Bodenbeschaffenheit und Höhenlage – alte Obstsorten gibt es für fast jeden Platz. Eine gute Obstbaumschule berät gerne, hängen doch Größe und Standortansprüche Ihres Baumes nicht nur von Art und Sorte ab, sondern werden durch die Wurzelunterlage stark mitbestimmt. Der Gärtner wählt aus einer breiten Vielfalt – von starkwächsigen Wildlingsunterlagen für mächtige Bäume bis zu schwachwüchsigen Unterlagen für Bäume in kleinen Gärten – die passende für Ihre Bedürfnisse aus. Die Pflanzzeit für Obstbäume beginnt nach dem Laubfall im Herbst mit Eintritt der Vegetationsruhe. Oft lassen sich Bäume schon im Sommer vorbestellen. In der Wintersaison bis Anfang März pflanzt man wurzelnackt, was den Bäumen sehr zugute kommt. 

3. Und wie geht es weiter?

In den ersten sechs Standjahren braucht Ihr Baum einen jährlichen Erziehungs-, danach nur noch gelegentlichen Pflegeschnitt. Ein gesunder Obstbaum ist ganzjährig eine Augenweide und wichtiger Lebensraum für zahlreiche Tierarten. Insekten, die er beherbergt, sollten nicht als Schädlinge betrachtet werden, dienen sie doch der Bestäubung oder sind wichtige Lebensgrundlage im Ökosystem. So lässt sich etwa selbst den gefürchteten Frostspannern etwas Gutes abgewinnen, fliegen sie doch im Winter, wenn sonst kaum Futter für unsere Singvögel vorhanden ist. Und ohne die eine oder andere Blattlaus könnten die jungen, unbeholfenen Meisen im Sommer kaum überleben. Etwas Düngung gelegentlich tut gut, sonst braucht Ihr Baum nicht viel, um Sie mit einer reichen Ernte zu belohnen.

Pomologie

Die Lehre der Arten und Sorten von Obst

Die Pomologie ist eine mitunter köstliche, aber auch mühsame Wissenschaft. Ein Teil des Wissens kann nur durch jahrelange Beschäftigung mit Obst und seinen Facetten, durch Zuschauen, Nachmachen und Üben erworben werden – oder durch ein Sortenbestimmungs-Seminar des Pomologen-Vereins e.V. Dort lassen sich auch die Grundlagen der Obstbaumpflege erlernen. Seit Jahrhunderten ist in Mitteleuropa die Kultur von Obstbäumen heimisch. Ihre Anpflanzung und Pflege verdanken diese in erster Linie der Tatsache, dass ihre Früchte ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Ernährung waren. Heute findet neben der Rückbesinnung auf alte, geschmacklich nicht zu überbietende Sorten der ökologische und ästhetische Wert immer mehr Beachtung. Die Notwendigkeit guter Pflege von Obstbäumen rückt wieder ins allgemeine Bewusstsein. Der Pomologen-Verein bietet Obstbaumschnittkurse und andere Kurse an, die sich beispielsweise auch mit der Veredelung von Obstbäumen beschäftigen. www.pomologen-verein.de

Die Autorin

Anna Gladis ist Dipl. Geographin, Naturparkführerin im Naturpark Taunus und angehende Landschaftsobstbäuerin. In ihrer freien Zeit widmet sie sich hingebungsvoll dem Erhalt alter Obst­sorten auf den eigenen Wiesen im Taunus.


Bildnachweise (alle Fotos): Anna Gladis

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18. Mai 2021