Reisen mit gutem Gewissen

Laut Ergebnissen der Reiseanalyse, der jährlichen Untersuchung zum Reiseverhalten der Deutschen, wünschen sich mehr als Zwei Drittel der Befragten beim Reisen Abstand vom All- täglichen, mehr als die Hälfte aller Befragten erhoffen sich besondere Naturerlebnisse, rund ein Drittel sehnt sich nach gesundem Klima beziehungsweise möchte etwas für seine Gesundheit tun. Jeder Fünfte will explizit aus ver- schmutzter Umwelt rauskommen.
Mehr als 40 Prozent wollen neue Eindrücke gewinnen und jeder Vierte wünscht sich den Kontakt zu Einheimischen und ihrer Kultur. Beim umwelt- freundlichen Reisen geht es im Wesentlichen genau darum, selbst dazu bei- zutragen, dass wir uns diese Wünsche nachhaltig erfüllen können. Am Beispiel der Ost-Algarve hat Martina Guthmann erlebt, wie sich nachhaltiger Tourismus à la longue positiv auf die Schätze in Sachen Kultur und Natur auswirkt.

Noch heute habe ich das Stimmengewirr – Italienisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch – in den Ohren und den Duft des multikulturellen Proviants in der Nase, als ich vor 40 Jahren mit dem Abi gerade in der Tasche am Fernbusbahnhof in Pforzheim an die südlichste Ecke Westeuropas startete – mit dem Ziel Algarve, was auf arabisch nichts anderes als „Westen“ bedeutet. Während sich die anderen In- sassen auf ihre Heimat freuten, war es bei mir die spannende Perspektive auf all die bunten Facetten einer mir noch unbekannten Welt. Diese Art des Reisens ist immer wieder ein Abenteuer, schon der Weg fühlt sich als Teil des Zieles an.

Dieses Mal reise ich im Winter 2023 an die östliche Algarve. Besonders außerhalb der touristischen Hauptsaison gilt die Region als Geheimtipp aufgrund ihrer Authentizität, ihrer Naturschönheiten und ihrer Kulinarik. Und es empfängt mich angenehm mildes Meeres-Klima, Temperaturen, die energetisch wirken und Unternehmungslust hervorrufen. Noch viel mehr als in den bekannten touristischen Küsten-Orten der westlichen Algarve steht in der Küstenregion zwischen Faro und der spanischen Grenze die Natur im Vordergrund: Das Naturschutz- gebiet Ria Formosa umfasst eine Inselkette, die im Spiel der Gezeiten teilweise bis zu drei Meter unter Wasser liegt und dann wieder in immer neuen Mustern ihre Sandbänke zum Vorschein bringt. Durch den ständigen Wasseraustausch ist diese be- sondere Wattlandschaft Heimat seltener Pflanzen und ein Leckerbissen-Paradies für einheimische Vögel wie beispielsweise Silberreiher, Seeschwalben oder Regenpfeifer. Aber auch die Zugvögel, wie die Störche zieht es gar nicht mehr weiter, sie lieben die Kirchtürme von Faro, auf denen sie die Ebbe und den reich mit Meerestieren gedeckten Tisch abwar- ten. In den Salinen, wo in den Sommermonaten das Meersalz gewonnen wird, waten jetzt die Flamingos in den Wasserflächen. Im klaren Licht leuchten die Farben der Natur um die Wette.

Auf der Ilha Deserta – übersetzt einsame Insel –, wo seit 40 Jahren nur noch Tagestourismus erlaubt ist, wird das Naturschauspiel noch getoppt: Pflanzen und Tierwelt haben hier einen Rückzugsort, den Naturliebhaber am wilden Strand bewundern dürfen. Das einzige Gebäude ist das ökologisch verträgliche Restaurant Estaminé – ein Musterbeispiel für nach- haltigen Tourismus – , es ist komplett aus Holz ge- baut, zu 100 Prozent energieautark und mit einer Salzwasser-Aufbereitungs-Anlage ausgerüstet, die köstliches Trinkwasser als Beigabe zu den regionalen Spezialitäten hervorbringt. Die Muschelgerichte sind wohl nirgendwo besser als hier, wo die Mu- schelsucher im glasklaren Meerwasser in den Momenten der Ebbe fündig werden.

 

Überhaupt sind es die Gaumenfreuden, die die Regi- on so unverwechselbar machen, denn gerade in der Grenzregion bewahrte sie sich neben der Natur auch das traditionelle Leben der Einheimischen, das ursprüngliche Handwerk und lang überlieferte Re- zepte der Region: Von der maurischen Tajine inspi- riert ist beispielsweise die Cataplana, ein im eigenen Sud dampfgegartes Gericht aus Gemüse, Fisch und Meeresfrüchten, aufgrund der Kupfervorkommen in der Region traditionell im Kupferkessel. Als Vorspeise wird getrockneter Fisch gereicht – dank nachhaltiger Fangwirtschaft haben sich die Thunfischbestände in den letzten Jahrzehnten wieder erholt. Beim Nachtisch werden die drei süßen Köstlichkeiten der Region vereint: Feigen, Mandeln und Johannisbrot. Und zum Ziegenkäse gibt es Honig, der hier nach Orangenblüten in Rosmarin schmeckt.

In den Städtchen empfangen kleine liebevoll restaurierte Boutique-Hotels in alten Gemäuern, wie beispielsweise das 3hb in Faro oder das Grand-House Algarve in Vila Real de Santo Antonio, der an Lissabon erinnernden Grenzstadt. Auf dem Land laden hübsche Landgüter zwischen Korkeichen, Johannisbrot-, Mandel- und Feigen-, Oliven- und Orangenbäumen zum Entspannen ein.

Vom Osten her ist die Region nach wie vor in gewisser Weise durch den Grenzfluss Guadiana zu Spanien abgeschirmt, einer Grenze, die seit mehr als 600 Jahren existiert und zu den ältesten Grenzen Europas zählt. Wer in die Seele und Geschichte der Portugie- sen und der Spanier hineinschaut, kann fühlen, dass bis heute nichts unpassender ist, als die beiden Länder der iberischen Halbinsel über einen Kamm zu scheren. Seit 1991 verbindet die über einen halben Kilometer lange Brücke zwischen Castro Marim in Portugal und Ayamonte in der Provinz Huelva den Grenzfluss und entlastet die gemütliche Personen- Fähre bei Vila Real des San Antonio – freilich lange nicht so spannend wie die wohl einzige zwei Länder verbindende Seilrutsche über den Fluss bei Alcoutim.

Wunderbar lässt sich hier das Hinterland erwandern, beispielsweise auf der Via Algarviana – dem rund 300 Kilometer langen Wanderweg von Alcou- tim bis Vila do Bispo. Er verläuft auf den Schmuggler- und Fischerpfaden durch intakte Natur und durch Orte, in denen die Einheimischen mit herzlicher Gastlichkeit empfangen.

Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln der Einhei- mischen ist die ganze Ost-Algarve gut erreichbar. Die Linha do Algarve verbindet die Küstenorte mit ihren hübschen fliesengeschmückten Bahnhöfen und gewährt immer wieder den Blick auf das Meer. Entlang der N125, der Lebensader der Algarve, fah- ren ganzjährig Busse und an so mancher Haltestelle finden sich Geschäfte wie beispielsweise Marietas Café, in denen sich die Einheimischen mit den köstlichen Gebäcken der Algarve versorgen.Mit einer speziellen Bimmelbahn geht es durch die Wattlandschaft an den Naturstrand von Tavira oder mit dem Boot von Olhao durch die Ria Formosa.

Meine Erinnerungen an die Algarve von vor 40 Jahren werden übertroffen: Wie schön, dass es Regionen gibt, denen es gelingt, sich das Authentische zu bewahren und es mit neuem Guten zu ergänzen.QC71E02

AN- UND WEITERREISE BEWUSST WÄHLEN – BUS UND BAHN Der „Fern-Bus“ war vor 40 Jahren mit Abstand das güns- tigste Verkehrsmittel und er ist es seit der Aufhebung des Fernbusmonopols im Jahr 2013 wieder. Das dichte Netz innerhalb Europas bringt zuverlässig und effizient, teilweise über Nacht ans Ziel. Vor allem aber ist der Fernbus das mit Abstand umweltfreundlichste aller Verkehrsmittel und schlägt in Sachen CO2-Ausstoß und Streckenvielfalt sogar noch den Zug.Fern- insbesondere Nacht-Züge erleben dank eines europäischen Förderprogramms derzeit wieder ein Revival: Bis spätestens 2030 sollen, zusätzlich zu den bestehen- den, beispielsweise München-Rom oder Berlin-Stockholm, weitere Verbindungen wie Amsterdam-Barcelona umgesetzt werden.

LEBENSRÄUME, WASSER UND KLIMA SCHÜTZEN Ein Flug schlägt in der persönlichen C02-Bilanz um ein Vielfaches mehr zu Buche als beispielsweise ein Jahr lang Fleischverzicht. Trotz Kompensationsmöglichkeiten – beim Ablasshandel sollte es unbedingt CDM Gold Standard sein – sollte das Fliegen daher die Ausnahme sein, denn es geht fast immer auch anders.Ein ungeschriebenes Gesetz in der Flugtouristik fordert eine maximale Transferstrecke von 150 km Transfer vom Flughafen zum Ferien-Hotel. So werden Flughafen-Pro- jekte wie das im Mündungsgebiet des Wildflusses Vjosa in Albanien begründet: Das Vjosa-Narta-Schutzgebiet ist eines der wichtigsten Ökosysteme und Feuchtgebiete Albaniens, Lebensraum und Zufluchtsort von mehr als 220 Zug- und Wasservögeln in einer seltenen Flora, ein Paradies für Radler und Wanderer. Es ist den Einheimi- schen genauso wie den Touristen zu wünschen, dass die Regierung nicht dem strategischen Fehler unterliegt, diesen großen Naturschatz zu zerstören, dem falschen Denken unterliegend, die südliche zauberhafte albanische Riviera sei sonst nicht schnell genug erreichbar.

ATMOSFAIR ist eine Klimaschutzorganisation mit dem Schwerpunkt der Kompensation von Treibhausgasen beim Reisen. Der freiwillig von den Emissionen abhängige Klimaschutzbeitrag ist ein Mittel der Schadensbegrenzung. www.atmosfair.de

TOURCERT, „CSR Tourism certified“ ist eine Zertifizierung, die als Orientierung dient für nachhaltigen und verantwortungsvollen Tourismus. www.tourcert.org

WANDERND UND RADELND DIE WELT ENTDECKEN Weil die umweltfreundlichste, nachhaltigste, gesündeste und erlebnisreichste Art der Fortbewegung die eigenen Füße sind, bieten viele nachhaltige Reiseveranstalter bewusst Wanderreisen in Kleinoden Europas an. Ein Beispiel dafür ist Hauser Exkursionen, die auch Mitglied im Verband des Forum Anders Reisen sind: Ob auf Schmugglerpfaden durch die Algarve, auf dem High Scardus Trail durch Albanien oder über die Alpen von Kitzbühl zu den Drei Zinnen in Südtirol, Slow-Trekking ist wohl die achtsamste Form des Reisens.

Das FORUM ANDERS REISEN gibt einen Überblick über ökologisch und sozial nachhaltig agierende Reiseveranstalter und Angebote. Hier findet man auch auf bestimmte Länder – beispielsweise Frankreich oder Finnland – oder auf bestimmte Interessen – wie Trekking oder Feelgood – speziali- sierte Anbieter. www.forumandersreisen.de

LOKALES HAT VORRANG Regionale Produkte und faire Entlohnung für einheimi- sche Mitarbeitende – so gelingt nachhaltiges Wirtschaf- ten im Tourismus. Mit der Wahl seiner Unterkunft, der Einkehr und der Speisen hinterlässt jeder Reisende einen Fußabdruck in Sachen Nachhaltigkeit. Und auch beim Kauf von Souvenirs und Erinnerungsstücken macht es Freude, in der Region Produziertes zu wählen.Nachhaltige Unterkünfte gibt es für jeden Geschmack und für jeden Geldbeutel. Sie alle verbindet der bewuss- te Umgang mit Ressourcen und den Einsatz regionaler und saisonaler Produkte. In Skandinavien ist bereits je- der fünfte Betrieb umweltbewusst aufgestellt. Reiseliteratur mit dem Fokus auf Nachhaltigkeit gibt gute Orientierung: Eine breite Auswahl an Reiseführern mit dieser Ausrichtung bietet beispielsweise der Michael Müller-Verlag, einen interessanten Ansatz haben auch die Glücks-Orte aus dem Droste Verlag.

GLÜCKSORTE AN DER ALGARVE
Fahr hin & werd glücklich, Nicole Biarnés,Droste Verlag,1. Aufl., April 2023
ISBN 978-3-7700-2277-9 168 Seiten, 15,99 Euro,Die Autorin stellt ihre 80 Lieblingsorte an der Algarve vor. Das Buch steckt voller Geheimtipps für intakte Natur und authentische Kultur.

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