Mehr Glück durch Mitgefühl
Was hat unsere emotionale Reaktion auf das Leid(en) von Mitmenschen mit dem Glück zu tun, nachdem wir alle streben? Sehr viel meint der Wissenschaftsjournalist Dr. Gerd Leidig und begründet anhand wissenschaftlicher Ergebnisse, warum das so ist.
Die Impfbereitschaft steigt um zirka 50 Prozent, wenn man jemanden persönlich kennt, der schwer an Corona erkrankt ist. Dies ergab eine Studie unter älteren Menschen (50+), die im Sommer 2021 von einem Forschungsteam der Max-Planck-Gesellschaft veröffentlicht wurde. Solange man keinen Menschen kennt, der unter den Folgen einer COVID-19-Infektion leidet, fühlt man sich nicht so betroffen und hofft insgeheim darauf, es möge schon keinen aus der Familie und gar einen selbst erwischen. Als uns im ersten Corona-Jahr die schrecklichen Bilder aus den Corona-Hotspots aus Bergamo in Italien oder auch New York und anderswo erreichten, gingen diese Berichte vielen unter die Haut. Dabei ist es von Mensch zu Mensch durchaus sehr verschieden, wie stark wir jeweils auf das Leiden anderer emotional reagieren, und hängt neben angeborenen Anteilen auch von unserer individuellen Persönlichkeitsentwicklung ab.
Doch was hat unsere emotionale Reaktion auf das Leid(en) von Mitmenschen mit dem Glück zu tun, nachdem wir alle streben?
Mitleid, Empathie und Mitgefühl
Empathie, Mitleid und Mitgefühl: alles Begriffe für die emotionalen Reaktionen auf die Not anderer. Für die Entwicklung, das Überleben und schließlich auch das Wohlfühlen des Menschen ist es wichtig zu wissen, was unser Gegenüber fühlt. Dabei ist die Fähigkeit, die Gefühle anderer lesen zu können, sehr unterschiedlich ausgeprägt. Zu einem gewissen Anteil bekommt jeder Mensch eine gewisse emotionale Grundausstattung von seinen Eltern vererbt, braucht aber dann für die weitere Entwicklung die nötige „Nestwärme“, in der das Urvertrauen entstehen kann, mit dem der Säugling und Heranwachsende lernt, verlässliche Bindungen eingehen zu können.
In der Alltagssprache werden die Begriffe Mitleid, Empathie und Mitgefühl häufig synonym gebraucht. Nach der Wende zum 21. Jahrhundert interessierten sich die Gehirnforscher zunehmend für das Gehirn als sozialem beziehungsweise Beziehungsorgan. Die individuelle Entwicklung des Menschen mit seinem Gehirn ist ohne den stetigen, engen und wertschätzenden Kontakt zu seinen Bezugspersonen, in der Regel den Eltern und dem familiären Umfeld, nicht möglich. Eine der ersten Forscherinnen, die sich der Empathie und dem Mitgefühl unter der Perspektive der sozialen Neurowissenschaften näherten, war Tania Singer. Sie untersuchte Probanden erstmalig mit der bildgebenden Methode der funktionellen Magnetresonanztomografie, bei der sie die Gehirnaktivitäten während bestimmter Aufgaben live aufzeichnen konnte. In ihren Schmerz-Empathie-Experimenten sahen die Versuchsteilnehmer im Scanner auf Monitore, auf denen Menschen gezeigt wurden, die scheinbar unter Schmerzen litten. Dabei wurden sowohl vertraute als auch nicht vertraute Menschen gezeigt, teils auf feststehenden Bildern, teils auf Videosequenzen. Diese Untersuchungen ergaben, dass es gemeinsame neuronale Schaltkreise für das Schmerzerleben selber und das empathische Mitleiden von Schmerzen anderer gibt.
Wer in sozialen und medizinisch-helfenden Berufen sehr viel und intensiv mit dem Leid(en) anderer Menschen zu tun hat, ist auch besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt. Dies haben die Berichte aus den Corona-Hot-
spots in aller Welt sehr eindrucksvoll und bedrückend gezeigt. Die Anzahl an Burnout-PatientenInnen aus diesen Berufsgruppen ist überdurchschnittlich hoch. Viele MitarbeiterInnen in der Pflege und auf den Intensivstationen haben diesen Druck nicht mehr ausgehalten und haben ihre Arbeitsplätze verlassen oder sind krank geworden. Als Tania Singer in den 10er Jahren des 21. Jahrhunderts ihre Schmerz-Empathie-Experimente machte, lud sie auch den französischen buddhistischen Mönch Matthieu Ricard in ihr Labor ein, um mit ihm herauszufinden, wie ein schon sehr lange Meditierender in diesem Fall auf Bilder vom Leid rumänischer Straßenkinder reagiert. Dabei leuchteten im Gehirnscanner dieselben neuralen Netzwerke auf, die bereits aus den früheren Untersuchungen als Empathie-Schmerz-Kreislauf bekannt waren. Im Interview äußerte sich Ricard als sehr betroffen, niedergeschlagen und traurig. Anschließend ging der Vertraute des Dalai Lama in eine besondere Form der Mitgefühlsmedi-
tation, die auf eine liebende Güte fokussiert. Dabei wünscht man den Leidenden, dass sie frei von Schmerz sein und in Frieden leben mögen sowie dass es ihn gut gehe. Überraschenderweise veränderten sich jetzt die Aktivierungsmuster im Gehirn. Es wurde nun das neurale Netzwerk aktiviert, was auch „aufleuchtet“, wenn man mit anderen Menschen freundschaftlich verbunden ist. Ricard berichtete anschließend, dass er sich mit den rumänischen Kindern sehr verbunden fühlte und er nach den intensiv erlebten positiven Wünschen für die Kinder, eine innere Ruhe und Ausgeglichenheit erlebt hatte.
Mitgefühl = Empathie +
Die Fähigkeit zur Empathie, also den Schmerz und das Leid anderer wahrzunehmen und zu empfinden, scheint eine sehr alte Errungenschaft der Evolution zu sein. Wenn zu diesem empathischen Miterleben dann der Wunsch hinzukommt, dem anderen möge es besser gehen und sich die Frage stellt, wie ich selber dem anderen helfen kann, dann ist Mitgefühl da, als „ein Gefühl der Sorge und Besorgnis, das natürlicherweise entsteht, wenn wir mit dem Leid(en) anderer konfrontiert und motiviert sind, dieses Leid(en) zu lindern“. (Nach Thupten Jingpa, längjähriger Übersetzer des Dalai Lama und Leiter des Projekts „Cultivation Compassion Training, CCT). Während die Fähigkeit zur Empathie eher ein spontanes, aber passives Reagieren auf die Not anderer bedeutet und sich vorwiegend auf die eigenen Emotionen fokussiert, beinhaltet Mitgefühl eine starke Motivation, dem anderen konkret zu helfen oder, wenn dies aufgrund von äußeren Umständen nicht geht, ihm zumindest alles Gute zu wünschen. Mitgefühl führt dazu, dass es einem auch selbst psychisch besser geht, man zufriedener ist und dies sogar oft mit Glücksgefühlen verbunden ist.
Die Schule des Mitgefühls
Wenn wir es schaffen, mit mehr Mitgefühl unseren Alltag zu durchleben, dann werden wir glücklichere Menschen. Dieses Ergebnis zeigen die Forschungen der letzten Jahrzehnte eindeutig. Die gute Nachricht dabei ist: Mitgefühl lässt sich bewusst lernen, einüben und trainieren.
Die folgenden Regeln können Sie auf Ihrem Weg zu einem glücklicheren Leben begleiten:
1. Achte bewusst auf die Momente, wo Du Mitgefühl in Deinem Alltag erfährst (als Empfänger von Mitgefühl von anderen) und auf die Impulse von Mitgefühl für andere: Menschen, Tiere und alle weiteren Lebewesen, denen Du begegnest.
2. Erkenne und fühle die Verbindungen von Mitgefühl und Freude (Glück) in Deinem Leben.
3. Gehe in engeren Kontakt zu Deinem Instinkt für Mitgefühl und Freundlichkeit und versuche, ihn zu nähren. Das kann gelingen, wenn Du Mitgefühl zu Deinen Dir wichtigsten Werten, zu einer inneren Haltung machst.
4. Ergänze Mitgefühl zu Deinen Absichten und Zielsetzungen im alltäglichen Umgang mit anderen, aber auch im Umgang mit Dir selbst. Natürlich können wir vieles nicht ändern oder beeinflussen, aber unsere Haltung und Einstellung zu anderen und uns selbst sollte uns bewusst sein und dass wir uns dabei um Mitgefühl bemühen können. Wir haben die Wahl!
5. Betrachte Ereignisse in deinem Leben vom Standpunkt des Mitgefühls aus. Das gelingt auch im Umgang mit der Vergangenheit: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.“
6. Suche und finde Freude in Deinem Tun (Arbeit, Hobby, Alltag) und Deinem Leben. Für den ersten Schritt brauchst Du Deinen Willen, dann sollte Dich Deine Freude (beg)leiten.
Der Autor
Dr. Gerd Leidig
Der studierte Apotheker praktiziert seit mehr als 20 Jahren Meditation und betreibt Buddhismusstudien (etwa bei Marc Akincano Weber und in der Tradition von Ayya Khema). Dr. Gerd Leidig verfolgt intensiv die wissenschaftliche psychologisch/medizinische Debatte. Darüber hinaus betätigt er sich als ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Bei seinen Studien zum Mitgefühl sind ihm folgende Zitate besonders aufgefallen:
„Mitgefühl ist ein Muskel, der bei Gebrauch wächst.“
Mahatma Gandhi
„Wenn Du möchtest, dass andere glücklich werden, praktiziere Mitgefühl. Wenn Du selber glücklich werden willst, praktiziere Mitgefühl.“
Dalai Lama
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