Sich nach dem Berufsleben neu zu erfinden ist eine Herausforderung, vor der hierzulande viele Menschen stehen. Kerstin Maria Pöhler hat sich dieses Themas in ihrem Erstlingsroman „Einen Sommer lang“ angenommen und beschreibt darin die schonungslose Suche des Protagonisten Leonhard Zepp nach den Dingen, die ihn wirklich glücklich machen. Hier eine Leseprobe:

 

Wasser…Er ließ sich im Strom der akademischen Masse in das Hörsaalgebäude treiben. An den Eingängen kam der Fluss ins Stocken. Dicht gedrängt passierten sie die Enge, um dann in einer Welle zu den wenigen noch verbleibenden Sitzplätzen im steil ansteigenden Auditorium geschwemmt zu werden. Leonhard hatte Glück und fand Platz in einer der vorderen Reihen. Erschöpft legte er seinen Notizblock und seinen Montblanc-Füller auf das schmale Schreibpult. Der Student neben ihm fuhr seinen Laptop hoch. Mit schnellen Schritten, aber ohne Hast, ging ein älterer Mann zum Rednerpult und warf seine schwarze Ledertasche mit Schwung auf den daneben stehenden Tisch, ohne dass sein Auftritt weiter beachtet wurde. Er schwieg und stand ruhig da in seinem altmodischen grauen Anzug und der zu kurzen Strickkrawatte. Mit Bedacht setzte er den rechten Ellbogen auf dem Pult ab, legte sein Kinn in Denkermanier zwischen Daumen und Zeigefinger und schaute abwartend ins Auditorium. Der Geräuschpegel ebbte langsam ab, es wurde ruhiger, still. Jeder andere Redner hätte jetzt begonnen, aber er wartete, bis absolute Ruhe herrschte und das Fallen einer Stecknadel zu hören gewesen wäre. Diesen Augenblick höchster Konzentration auf seine Person reizte er bis zum letzten aus, um dann, kurz bevor das erste Räuspern eingesetzt hätte, mit seiner hohen Stimme in die Stille zu stechen, in die nun der angehaltene Atem der Zuhörer entwich. Ein gelungener Auftritt, dachte Leonhard und war beeindruckt.
„Herzlich willkommen zum Dies academicus an der Universität zu Köln. Es freut mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihre Erwartungen, die Sie in Heerscharen hierher trieb, auch erfüllen kann. Wer in dieser Einführung „Über das glückliche Leben“ Rezepte zu Wellness und Wohlstand sucht, der ist hier völlig falsch und vergeudet nur seine Zeit. Dafür gibt es effizientere Strategien als die Stoa. Glücklich leben wollen alle, aber wenn man herausfinden will, was ein glückliches Leben ausmacht, dann gewinnt man keine Klarheit, meinte Seneca. Sehen Sie, selbst die Philosophen scheinen vor dieser Frage zu kapitulieren. Aber, meine Damen und Herren, Philosophie heißt vor allem Fragen stellen, um mögliche Antworten zu finden und dazu möchte ich Sie einladen.“
Forschend schaute der Professor in das erheiterte Publikum. „Ich sehe, dass hier einige Glückssucher gestrandet sind. Vielleicht bringen Sie aus Ihrer praktischen Lebenserfahrung ja mehr Klarheit in die Sache als jeder mit der Philosophie beschäftigte Wissenschaftler. Ja, ja der gesunde Menschenverstand… Was bedeutet das denn für Sie, das glückliche Leben?“, fragte er und ließ seinen Blick durch die vorderen Reihen schweifen. Leonhard fühlte sich ertappt wie ein Schüler, der nicht die richtige Antwort zu geben wusste und hoffte, dass er verschont blieb. Tatsächlich, er hatte Glück: Der Professor überging ihn und fixierte einen gut aussehenden, gebräunten Herrn um die sechzig, der vor ihm in der ersten Reihe saß und sich geschmeichelt fühlte, nach seiner Meinung gefragt zu werden. „Glücklich sein, heißt für mich zuerst einmal, gut zu leben“, antwortete er, als handelte es sich für ihn um eine Selbstverständlichkeit. „Wann leben Sie denn gut?“, fragte der Professor. Der Mann, ganz Bonvivant, erwiderte: „Wenn ich genieße.“ „Und was bedeutet das für Sie, genießen?“, forschte der Professor weiter. „Ohne indiskret sein zu wollen, man braucht dazu nicht viel, aber das vom Feinsten: Ein Glas guten Bordeaux in der Rechten, eine aromatische Havanna in der Linken und mir gegenüber eine schöne junge Frau.“ Einige lachten, anerkennende Pfiffe gingen durch die Reihen. Der Herr lächelte und fühlte sich bestätigt in seiner Lebenstüchtigkeit – der Erfolg gab ihm wieder einmal Recht. Leonhard mochte ihn nicht und enthielt sich des Beifalls. Trotzdem beneidete er ihn, irgendwie.
„Ja, ja, das gute Leben, eigentlich doch gar nicht schwer, einfach die Sonnenseite des Lebens genießen und schon ist sie da, die Glückseligkeit oder Eudaimonia, wie der Grieche sie nennt“, fasste der Professor zusammen. „Das Leben nach dem Lustprinzip. Wir stürzen uns in das sinnliche Erleben, heben alle Begrenzungen, alles Gegensätzliche auf, fühlen uns frei und ewig jung. Vielleicht sogar wie ein Gott, nicht wahr?“, fragte er den smarten Herrn. „Na wir wollen es doch nicht gleich übertreiben, eher wie ein König.“ Unerträglich, jetzt gibt sich dieser Angeber auch noch bescheiden, dachte Leonhard. „Auch gut, aber was passiert, wenn Ihr Körper nicht mehr mitmacht?“, fragte der Professor weiter.
„Darüber“, der Herr dehnte dieses Wort zweideutig in die Länge, „machen Sie sich mal keine Sorgen“, erwiderte er und sah sich mit siegesgewissem Lächeln um, was ihm wieder einige Pfiffe einbrachte. Leonhard war die zur Schau gestellte Potenz dieses alten Beaus zuwider. „Es kann Sie ja auch aus heiterem Himmel treffen“, insistierte der Professor. „Wie meinen Sie das denn?“ Der Mann schien irritiert. „Nun, Sie verlassen in einer halben Stunde den Hörsaal, genießen die Sonne auf dem Albertus-Magnus-Platz, eine Studentin lächelt Sie offenherzig an, Sie sind beglückt, welche Wirkung Sie immer noch auf Frauen haben und flirten mit ihr. Dann, ganz plötzlich, wird Ihnen schwarz vor Augen, Sie verlieren das Bewusstsein…“ „Das wäre doch ein wunderbarer Tod, im Anblick einer schönen Frau zu sterben“, unterbrach ihn der gewitzte Herr schnell, erleichtert, wieder Oberwasser zu gewinnen, was prompt von einigen Lachern im Publikum goutiert wurde. „Zu schön, um wahr zu sein“, erwiderte der Professor. „Aber, wie das Leben oder das Schicksal so spielt, Sie wachen auf und sind halbseitig gelähmt. Ihre linke Gesichtshälfte hängt herunter, der Speichel tropft Ihnen aus dem Mund und Sie können kaum noch sprechen. Was nun?“ Der Mann wurde still. Zum ersten Mal wusste er nicht zu antworten, er schluckte. „Diese Vorstellung macht Ihnen Angst, nicht war? Ausgeliefert, nicht mehr Herr über den eigenen Körper zu sein, das Gefühl der totalen Ohnmacht. Aus der Traum vom ewigen Genuss, niemand, der mehr applaudiert, nie mehr. Sie wollen sterben, da Sie sich nicht mehr als ganzer Mensch fühlen. Sie glauben, kein Ihrer Natur als Mensch angemessenes Leben mehr führen zu können. Wie ein Vogel, der nicht mehr fliegen kann. Aber ist der Vogel deshalb kein Vogel mehr, weil er nicht mehr fliegen kann und sollte deshalb sterben?“
„Es wäre zumindest besser so, denn sein schönes Leben ist endgültig vorbei“, antwortete der Mann und schwieg. Endlich hat er diesen Sportwagenfahrer mit seiner Immer-auf-der-Überholspur-des-Lebens-Mentalität ausgebremst, dachte Leonhard. Der Blick des Professors fiel auf ihn. Diesmal überging er ihn nicht…

Foto: Monika Frei-Herrmann
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Buch-Tipp: Einen Sommer lang

Videos: Kerstin Maria Pöhler in der Quell-Redaktion

Kerstin Maria Poehler
Einen Sommer lang
Roman. Quell Verlag, 325 S., gebunden,
Preis: 24,90 EUR
e-book, 19,90 EUR
ISBN 978-3-9812667-5-7
Erhältlich im Buchhandel oder im Quell-Shop