„Du musst Dein Leben tanzen“, forderte der Philosoph Friedrich Nietzsche. Dieser Satz hat bis in unsere Tage nicht an Bedeutung verloren. Die heilsame Wirkung des Tanzes auf die Psyche des Menschen und sein  Sozialverhalten ist unbestritten. Von Kerstin Maria Pöhler 

Seit Urzeiten gehören Musik und Tanz zum Leben des Menschen. In den Kulturen von Naturvölkern begleiten Ritualtänze bis heute wichtige Ereignisse der Gemeinschaft und stärken den Zusammenhalt der Gruppe: In der Bewegung drückt sich die kollektive Emotion von Freude, Trauer oder Angst bis hin zu Raserei und Ekstase aus. Im Tanz rufen die Menschen Götter an, damit diese den Verlauf des Lebens positiv beeinflussen, in bestimmten Religionen ist der Tanz von zentraler Bedeutung: Der Hindu-Gott Shiva tanzt den Kreislauf von Schöpfung und Zerstörung, im sogenannten „kosmischen Tanz“ zerstört er das Universum, bezwingt die Dämonen der Unwissenheit und Unachtsamkeit und erschafft das Universum neu. Wenn Shiva aufhört zu tanzen, geht die Welt unter. In der islamischen Mystik ist der Tanz der Derwische fester Bestandteil der Religions- ausübung, der die Tänzer in Trance versetzt, um die Präsenz Gottes zu erfahren.

Im christlich geprägten Abendland hingegen hat der Tanz keine religiöse Funktion, sondern erfüllt überwiegend gesellschaftliche Funktionen: Seit der Renaissance dient er dem Adel als höfische Unterhaltung, der Unterschicht als privates Vergnügen bei Festen und Feiern. In dieser Zeit entwickelt sich das Ballett zu einer selbstständigen Bühnenkunst mit ersten Höhepunkten am Hofe der Medici in Italien und später Ludwigs XIV. in Frankreich. Hier wird es zu einem künstlerischen Ereignis, das der prunkvollen Repräsentation der Machthaber dient und dem ein aristokratisches Publikum beiwohnt. Eine Blütezeit erlebt das Ballett in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Marinskij-Theater in St. Petersburg und Bolschoi-Theater in Moskau, wo die berühmten Choreographien zu Schwanensee, Nussknacker und Dornröschen entstehen, die man auch heute noch in ihrer technischen Perfektion bewundern kann. Die sogenannte Russische Schule spielt bis heute eine entscheidende Rolle in der klassischen Tanzausbildung.

Einheit von Körper, Geist und Seele
Anfang des 20. Jahrhunderts ruft die extreme Künstlichkeit und Realitätsferne des Klassischen Balletts eine Gegenbewegung auf den Plan, die zugleich den Grundstein für den zeitgenössischen Tanz unserer Tage  legt. Isidora Duncan wird als eine der ersten Vertreterinnen des Ausdruckstanzes berühmt. Ihr geht es nicht um die Virtuosität, sondern die Natürlichkeit der tänzerischen Bewegungen. Das Ballett betrachtet sie als Sinnbild gesellschaftlicher und patriarchalischer Restriktionen. Duncan wendet sich von den erstarrten Formen der Choreographie und dem eisernem Training ab und strebt stattdessen eine an der griechischen Antike orientierte Einheit von Körper, Geist und Seele an.

Die Kritik in ihrem Manifest „The Dance of the Future“ richtet sich nicht allein gegen das Ballett, sondern gegen das Leben in der modernen Gesellschaft überhaupt, die mit ihren Rollenzwängen und Konventionen den Menschen seiner selbst entfremdet. Im Tanz sieht sie eine Möglichkeit, zu einem selbstbestimmten und unverfälschten Dasein zu finden. Vor allem Frauen können sich und ihren Körper nun jenseits von männlichen Rollenzuweisungen erfahren und in freien, nicht vorgeschriebenen Bewegungen ausdrücken.

In fließenden Gewändern tanzt Duncan barfuß und emanzipiert sich als Tänzerin von der Rolle der zerbrechlichen Ballerina in Tutu und Spitzenschuhen. Dionysos, der griechische Gott des Weins und der Ekstase, und seine rauschhaften Feste werden ihr zum Vorbild für entfesselte und sinnliche Tanzkunst. Tanz ist für Duncan nicht mehr l´art pour l´art und artifizielles Vergnügen, sondern Ausbruch aus einer erstarrten Gesellschaftsordnung und Befreiung des Menschen zu sich selbst und seinen spirituellen Kräften.

Während des Ersten Weltkrieges gründet Rudolf von Laban auf dem Monte Verità bei Ascona eine Künstlerkolonie, die eine pazifistisch alternative Lebensform praktiziert und zu einem Mekka für die Erneuerung des Menschen wird. Der innovative Tanzpädagoge entwickelt den Tanz aus der Improvisation und individuellen Gestaltung des  Tanzenden heraus als Ausdruck seines seelischen Erlebens.

Seine Schülerin Mary Wigman entwickelt seine Bewegungslehre weiter zum rhythmisch-expressiven Ausdruckstanz, den sie als New German Dance international bekannt macht. Entscheidend ist für sie die Suche nach einer Unabhängigkeit des Körperausdrucks von der Musik. Der Tanz soll nicht die Emotionen der Musik, sondern die Empfindung der Tänzerin zum Ausdruck bringen. Die Komposition folgt den Bewegungen und dem Ausdruckswillen des Tanzenden, nicht umgekehrt. Wigman tanzt ihre aus der Improvisation entwickelten Choreographien überwiegend zu der Begleitung von Gongs oder Trommeln. Erst während der Probenarbeit entstehen die Kompositionen, manchmal tanzt sie sogar ohne Musik. Diese revolutionäre Vorgehensweise machte sie zu einer Vorreiterin des modernen Tanztheaters unserer Tage. Ein eindrucksvolles Beispiel für die darstellerische Kraft Wigmans zeigt sich in der zweiten Version ihres expressionistischen Hexentanzes, den man bei Youtube anschauen kann.

Erneuerung des Menschen
Darüber hinaus kommt ihrem Tanzen eine therapeutische Funktion zu: Es half ihr eine von schwerer Krankheit gezeichnete Lebenskrise zu überwinden. In einer ihrer wichtigsten Choreographien, „Die sieben Tänze des Lebens“ aus dem Jahr 1921, verarbeitet sie basierend auf einem selbstverfassten Gedicht die erlittenen Todesängste. Körper, Emotion und Biographie der Tänzerin bilden eine Einheit. Ihre Erkenntnisse hielt sie in dem Buch „Die Sprache des Tanzes“ fest und legte damit den Grundstein für die moderne Tanztherapie: Erlebnisse schreiben sich in das Körpergedächtnis ein, der Tanz vermag einen davon zu befreien. „Du musst Dein Leben tanzen“, forderte der Philosoph Friedrich Nietzsche. Dieser Satz hat bis in unsere Tage nicht an Bedeutung verloren. Die heilsame Wirkung des Tanzes auf die Psyche des Menschen und sein Sozialverhalten ist unbestritten.

Buch-Tipps

Schar Ptiza

Tanz-Roman von Kerstin Maria Pöhler
Bulgarien 1964: Maja ist Primaballerina. Mit dem Feuervogel gelingt der jungen Frau der ersehnte künstlerische Durchbruch. Noch am Premierenabend erhält sie das Angebot, nach Westdeutschland zu gehen, um an der Essener Folkwanghochschule zu studieren. Dort lösen sich ihre Hoffnungen zunächst nicht ein: Doch Maja findet eine Mentorin, die ihr die Welt des Ausdruckstanzes nahe bringt.
Axel Dielmann – Verlag ISBN 978-3-86638-221-3 – 363 Seiten, gebunden Preis: 20,00 Euro

 

 

 

Einen Sommer lang
Der Erstlings-Roman von Kerstin Maria Pöhler 

Quell Verlag, 2011

ISBN 978-3-9812667-5-7

325 Seiten, gebunden

Preis: 24,90 Euro

Erhältlich im Quell-Shop

 

 

Die Autorin

Kerstin Maria Pöhler ist in Köln geboren. Sie studierte Musik und Germanistik an der Musikhochschule Köln und an der Universität zu Köln. Als Musiktheater- Regisseurin hat sie an bedeutenden Opernhäusern gearbeitet wie der Bayerischen Staatsoper, der Oper Graz und dem Staatstheater Braunschweig. Derzeit wirkt sie als Lehrbeauftragte an der Musikhochschule Köln. Außerdem ist sie als Autorin tätig und verfasst Opernlibretti.

Einen Sommer lang ist ihr erster Roman; ihr zweiter Roman mit dem Titel “Schar-Ptiza” entführt den Leser in Die Welt des Tanzens. Kerstin Maria Pöhler lebt in ihrer Heimatstadt Köln.

 

 

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Bildnachweis: Titelbild Fotolia | Wisky, Foto Autorin; Dietlind Konold