Walk: Die sechs Aspekte des Gehens
Das Gehen in der Kunst reicht historisch bis ins 19. Jahrhundert zurück, wo es in der Gestalt des Flaneurs seinen Weg in die Literatur findet. Der französische Schriftsteller Charles Baudelaire ernannte den Flaneur zum „Maler des modernen Lebens“. Sein langsames und zielloses Umherschweifen galt als Protest gegen den Konsum in den neu entstandenen Einkaufspassagen. In den 1950er Jahren nutzte die Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern sowie Intellektuelle der Situationistischen Internationale das Gehen in der Stadt methodisch für psychogeografische Feldforschung. Mit subversiven Spaziergangspraktiken – Dérive – eroberten sie sich den kapitalistisch geformten städtischen Raum spielerisch zurück. Der Soziologe Lucius Burkhardt entwickelte 1976 an der Universität in Kassel die sogenannte Spaziergangswissenschaft. Die dabei angewandten Wahrnehmungs- und Aneignungsstrategien des Gehens sind nach wie vor aktuell und beeinflussen nicht nur die Stadtforschung und Stadtplanung, sondern auf vielfältige Weise auch die Kunst. Beispiele dafür zeigt die Ausstellung „Walk“ in der Frankfurter Schirn. Die Kuratoren der Ausstellung Matthias Ulrich und Fiona Hesse unterscheiden die gezeigte Kunst in sechs Aspekte:
Umherschweifen
Das umherschweifende Gehen ist den menschlichen Affekten, den äußerlichen Verführungen verpflichtet. Es ist ziellos, ein die Umgebung und die Menschen beobachtendes Gehen und reicht von exzentrisch bis unsichtbar.
Beobachten
Die Überwachung des Gehens erfolgt in allen möglichen Räumen. Die Überwachung argumentiert mit der Sicherheit des einzelnen Menschen, wie etwa unbehelligt im Dunklen in einer Stadt gehen zu können, aber auch mit der staatlichen Fürsorge, wofür beispielsweise Kameras in bestimmten Gebieten installiert werden. Es gibt aber auch die Selbstbeobachtung und Optimierung der körperlichen Gesundheit, so dass Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung zu einer Einheit verschmelzen.
Nicht-Gehen
Nicht-Gehen kann Verweigerung sein, kann auf einem Gehverbot beruhen, kann auch Nicht-gehen-Können sein oder bedeuten, dass sich die gehende Person in Gefahr bringt. Durch das Nicht-Gehen tritt das Gehen in ein anderes Licht.
Erzählen
Das Gehen kann von großer pathetischer Eleganz sein und in seiner Einfachheit und Direktheit unmittelbar berühren. Es kann politisch schwierige Inhalte transportieren, es kann gegen die Vergessenheit von geschichtlichen Fakten antreten und die Erinnerung wachhalten, es kann von Orten erzählen, die gar nicht anders als gehend anzutreffen sind.
Gehen
Gehen kann die Voraussetzung von künstlerischer Arbeit sein, als eine ihr immanente Handlung, die für die daraus folgenden Erfahrungen notwendig ist. Es ist diese bewusste Tätigkeit des Gehens, welche die Umwelt intensiver erscheinen lässt und die Einsicht in unsere grundsätzliche Abhängigkeit von dieser Umwelt und die Fähigkeit, mit ihr zu kommunizieren.
Produzieren
Fundstücke auf alltäglichen Wegen gelangen in den künstlerischen Produktionskreislauf. Daraus entstehen Konzepte für Arbeiten, die das Gehen mit Wahrscheinlichkeiten von weiteren Fundstücken versorgen, welche die Alltäglichkeit des Gehens aufwerten.