Pilgern vor der Haustür: Unterwegs auf dem Frankfurter Jakobsweg

Der Jakobsweg verläuft nicht nur in Spanien oder Frankreich – auch in Deutschland verläuft ein Netz von Wegen in Richtung Süden, dem heiligen Jakobus in Santiago de Compostela entgegen. Manchmal verläuft eine Teilstrecke auch direkt vor der Haustür, beispielsweise von der St. Leonhardskirche in Frankfurt bis zum „Maingauer Dom“ in Schwanheim.

„Vor dem roten Bauzaun grüßen drei Pilger: An den Muscheln am Kragen oder auf dem Hut sind sie unschwer als Jakobspilger zu erkennen, und das mitten in Frankfurt vor der markanten Hochhauskulisse. Die drei mannsgroßen Bronzefiguren wurden 1990 von der Frankfurter Künstlerin Franziska Lenz-Gerharz geschaffen. Sie stehen vor einem berühmten Kleinod Frankfurts, der St. Leonhardskirche, der ältesten und wohl schönsten Kirche in der Innenstadt, die auf den Mauern einer spätromanischen Basilika aus dem Jahre 1219 steht.“ Diese Beschreibung der Pilgerstelle des Bistum Limburgs macht Lust darauf und lässt den Entschluss reifen, einen Samstag mal so ganz anders zu verbringen, als man das sonst der lieben Gewohnheit wegen normalerweise so macht.

St. Leonhards ist der Ausgangspunkt einer Etappe des Jakobswegs, die gerade jetzt zu dieser Jahreszeit Frühjahrsgefühle mit unerwarteten Überraschungen beschert.

Auch wenn dies nicht die offizielle Route des Frankfurter Jakobswegs ist: Bis zur Eisenbahnbrücke geht es rechts des Mains entlang durch das so genannte Nizza, das den Besucher mit seinen mediterranen Pflanzen dem spanischen Jakobsweg gleich 1.000 Kilometer näher zu bringen scheint. Seinen Namen hat das Nizza von seinem milden Mikroklima, das von seiner windgeschützten Südlage, der günstigen Sonneneinstrahlung und dem Wärmespeicher des Flusses herrührt. Dadurch gedeihen hier zahlreiche Pflanzen der mediterranen Flora, die an die Gärten der französischen Rivera erinnern. Schon jetzt, Mitte März, blühen hier die Kamelien in rot und weiß.

Die Eisenbahnbrücke über den Main bietet einen Blick auf den Westhafen und auf den Frankfurter Kaiserdom. Wer den Jakobsweg Fulda-Mainz-Trier wählt, der kommt am Dom vorbei, in dem über Jahrhunderte deutsche Könige und Kaiser gewählt und gekrönt wurden.

30 verschiedene Routen in Deutschland verzeichnet die Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft, ein Verein, der sich um die Festlegung der Wegführung und  Ausschilderung der Jakobs-Wege kümmert, Informationsmaterial zu den einzelnen Jakobswegen erstellt und Initiativen zur Pilgerbetreuung am Weg unterstützt. Bei der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft kann man sich auch einen Pilgerausweis besorgen, der nicht nur die eigene Weg-Leistung dokumentiert, sondern auch Anknüpfungspunkte für Begegnungen eröffnet. Mit einem Pilgerausweis lässt sich gut ins Gespräch kommen. Doch auch eine sichtbar getragene Jakobsmuschel kann bei Passanten Interesse wecken und deren Herz öffnen.

Für die Teilstrecke nach Schwanheim ist derlei erst einmal nicht nötig. Wer zügig geht, der schafft die etwa acht Kilometer lange Strecke in unter zwei Stunden, wer sich treiben lässt, der kann sich am Wegrand mit allerlei Unerwartetem aufhalten. Etwa mit den „Stoamandl“ bei der Schleuse in Grießheim, die sonst vor allem im Gebirge zu finden sind.

Obwohl die Strecke an Wohnbebauung, Uni-Krankenhaus, dem Autobahnzubringer mit Blick auf Industrieanlagen verläuft, zeugen Bäume, Sträucher und Blumen immer wieder von der unglaublichen Kraft der Natur. Tiefblaue Veilchen erinnern an das Frühlingsgedicht von Rainer Maria Rilke, das dem nicht unbedingt in ein Gebet vertieften Pilger ins Gedächtnis kommt:

Frühling ist wiedergekommen. Die Erde
ist wie ein Kind, das Gedichte weiß;
viel, o viele…. Für die Beschwerde
langen Lernens bekommt sie den Preis.

Streng war ihr Lehrer. Wir mochten das Weiße
an dem Barte des alten Manns.
Nun, wie das Grüne, das Blaue heiße,
dürfen wir fragen: sie kann, sie kanns!

Erde, die frei hat, du glückliche, spiele!
nun mit den Kindern. Wir wollen dich fangen,
fröhliche Erde. Dem Frohsten gelingts.

O, was der Lehrer sie lehrte, das Viele,
und was gedruckt steht in Wurzeln und langen
schwierigen Stämmen: sie singts, sie singts!

Egal, ob mit Gebeten oder mit Gedichten im Kopf und auf den Lippen zweigt auf einer grünen Wiese eine Fußgängerbrücke über die vierspurige Straße nach Schwanheim ab. St. Mauritius, der „Maingauer Dom“, lädt zur Rast ein. Oft schon ist man auf dem Weg nach Süden hier vorbei gefahren und hat doch nie die Muße gehabt, hierher nach Schwanheim abzubiegen. Alt-Schwanheim hat erstaunlich viele Fachwerkhäuser zu bieten, auf dem Weg zur Endstation der Straßenbahn 12 locken gutbürgerliche Lokale und Eiscafés. Die Linie 12 bringt den Pilger zurück in die Frankfurter Altstadt und während der Fahrt kommt Erstaunen auf, welch weite Strecke man an einem Vormittag zu Fuß geschafft hat.

 

9. März 2022