Nachdenken über das Alter

Didier Eribon (* 10.7.1953) ist ein zeitgenössischer französischer Philosoph und Soziologe, dem selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammend, der soziale Aufstieg gelungen und der heute Professor für Philosophie und Soziologie und einer der bekanntesten Intellektuellen Frankreichs ist. In seinen Werken spiegeln sich seine eigenen Erfahrungen der wegen seiner Biographie (Prekariat, Homosexualität) erfolgten Diskriminierungen wider und er versucht, diese philosophisch und soziologisch zu verarbeiten. Sein neustes Werk ist 2023 unter dem Titel „Vie, vieillesse et mort d´une femme du peuple (Eine Arbeiterin, Leben, Alter und Sterben) erschienen. Am Beispiel seiner Mutter, die nach langen und arbeitsreichen Jahren, zuletzt in einem Pflegeheim untergebracht worden war, schildert er die skandalöse Situation in den französischen staatlichen Pflegeheimen und die Willkür, der die Bewohner ausgesetzt sind, aber auch die Ohnmacht der betreuenden Personen. Er zeigt, wie die Politik aber auch die Philosophie diese Zustände verdrängt haben und immer noch verdrängen. Er stellt fest, dass die Wissenschaft zwar die physiologischen Vorgänge und die sich daraus ergebenden medizinischen Maßnahmen gut erforscht, aber dass es kaum Literatur über das Erleben des Alterns durch die Alternten selbst gebe. Diese sei aber nötig, um zu verstehen, wie sich das Verhalten, die Lebensweise und die Psyche der Betroffenen durch diese Erfahrung verändern. Dass der Prozess des Alterns eine mitunter tiefgreifende Veränderung der Stellung eines Menschen in der Gesellschaft, also der gesamten Beziehungen eines Menschen zu anderen Menschen mit sich bringt, scheint kein Thema der akademischen Philosophie zu sein, so Eribons Feststellung. Für junge Menschen oder Menschen mittleren Alters ist die Situation und das Erleben alter Menschen schwierig zu verstehen. Man wehrt bewusst oder unbewusst den Gedanken an das eigene Älterwerden oder die eigene Sterblichkeit ab. Das Alter ist kein Thema politischer und philosophischer Theorien, es wird der Sphäre des Privaten zugeordnet und ist für die Entwicklung von Theorien ohne Bedeutung. Eribon kommt zu dem Ergebnis, dass Politik und Philosophie Konzepte, d.h. Theorien entwickeln, in denen alte Menschen keinen Raum, keinen Platz haben und damit zum Ausschluss des Alters und zur Ausgrenzung alter Menschen beitragen. Bekannte Philosophen, er nennt hier Norbert Elias und Simone de Beauvoir beschäftigen sich in ihren Alterswerken zwar mit dem eigenen Älterwerden, aber Alter und die damit einhergehende Hilfsbedürftigkeit werden bei ihnen auch nicht thematisiert.  Will man alte und hilfsbedürftige Menschen wieder politisch und philosophisch als Subjekte sehen, so muss man sich fragen, ob alte Menschen für sich selbst sprechen können. Sollte dies nicht der Fall sein, so muss man sich fragen, was man unternehmen muss, damit sie trotzdem gehört werden, bzw., wer für sie sprechen kann. Hier finden sich die Grenzen der gesellschaftlichen und politischen Handlungsfähigkeit. Wie kann man die Handlungen der Menschen denken, die nicht mehr selbst handeln können?  Wie die Stimme der Menschen, die nicht mehr für sich selbst sprechen können? Dieser Grenzfall macht es möglich, die in der Politik und der Theorie verwendeten Kategorien prinzipiell zu hinterfragen.  Denn diese Fragen gelten auch für andere benachteiligte Menschen, nicht nur für Alte und Kranke.


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LEICHTER LEBEN MIT PHILOSOPHIE

Helga Ranis

Edition Quell ISBN 978-3-9819936-2-2, Erscheinungstermin: 1. August 2024

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Seit Jahren beschreibt Helga Ranis für www.quellonline.de die Erkenntnisse der großen Denkerinnen und Denker, die uns die Herausforderungen des Lebens leichter bewältigen lassen. Über die Jahre ist eine beeindruckende Sammlung an Rezepten und Strategien entstanden. Sie geben Inspirationen, wie die Menschen ihren Alltag gestalten können. Der Weg zur inneren Freiheit des stoischen Philosophen Epiktet fehlt in dieser philosophischen Hausapotheke ebenso wenig wie moderne Überlegungen über das Wesen der Arbeit von Axel Honneth. Das Spektrum reicht von Adorno bis Zizek.

Die Autorin Helga Ranis studierte Theologie und Philosophie und schöpft aus einem großen Fundus philosophischen Wissens.

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