Labyrinthe – Wege zur Mitte und zurück

Wege im Labyrinth

Zu den ältesten Symbolen der Menschheit gehört das Labyrinth. Ein Labyrinth sieht aus wie ein Irrgarten, ist aber etwas ganz anderes: In einem Labyrinth gibt es keine Sackgassen oder Wegkreuzungen, wohl aber eine Vielzahl von Wendungen (Umgängen), die man durchlaufen muss. Nur eines ist notwendig: Man muss aufbrechen und weitergehen. Eines darf man nicht tun: Stehen bleiben. Der Weg im Labyrinth führt wiederholt sehr nah an die Mitte heran, und im nächsten Augenblick befindet man sich wieder sehr nah am Ausgangspunkt. Bis man in die Mitte gelangt, hat man daher oft den Eindruck, es ginge nicht voran, der Weg sei vergebens. Aber das ist er nicht, denn es gibt nur einen Weg, der (gleichsam wie von selbst) in die Mitte führt.
Der Ursprung des Labyrinths liegt im Dunkeln. Die ältesten Labyrinth-Funde stammen aus dem 2. Jahrtausend vor Christus. Das Symbol des Labyrinths begegnet uns in vielen Kulturen und Religionen. Das berühmteste christliche Labyrinth stammt aus dem Jahr 1240 und findet sich bis heute in der Kathedrale zu Chartres in Fankreich. Es gibt Boden-Labyrinthe, gemauerte Labyrinthe oder Garten-Labyrinthe, und es gibt solche, die sich als Verzierungen an Wänden und Höhlen, Tempeln oder Kirchen befinden. Labyrinthe kann man geistig oder körperlich durchlaufen.
Der Weg im Labyrinth steht für den Lebens- oder Glaubensweg eines Menschen, für einzelne Lebensabschnitte, für den Weg in die eigene innere Mitte, für den Weg zu Gott und somit auch für mystische und spirituelle Erfahrungen. Der Weg im Labyrinth ist die Einladung, den eigenen Lebensweg geistlich zu betrachten. Das Labyrinth kann uns helfen, die verschiedenen Erfahrungen des Lebens zu deuten und deren Botschaft zu entschlüsseln.

Wege aus dem Labyrinth

Das Labyrinth ist ein sehr realistisches Symbol für unser Leben. Wer in der Mitte angekommen ist, wird dort nicht ewig bleiben können. Er muss wieder zurückkehren. Auch Petrus, Jakobus und Johannes, die Jesus auf den Berg Tabor begleitet haben und dort Zeugen eines großartigen Verwandlungsgeschehens („Verklärung des Herrn“) wurden, müssen wieder hinabsteigen in das Tal des Alltags. Oder anders formuliert: Nachdem die drei Jünger und Jesus das Labyrinth betreten und eine außerordentliche Erfahrung in der Mitte des Labyrinths gemacht haben, müssen auch sie wieder zurück. Sie wären lieber geblieben: „Herr, es ist gut, dass wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen.“ Aber darum geht es nicht. Jesus fordert sie auf wieder hinab zu steigen, um sich dem zu stellen, was unausweichlich ist.
Wer sich schon einmal auf einen Pilgerweg gemacht hat, der kennt das Gefühl: Man hat sich lange auf ein besonderes Ziel zu bewegt. Man war an einem Ort, an dem sich Himmel und Erde berühren. Und nun soll man wieder zurück in den Alltag. Wer will das schon?
Nachdem das Ziel erreicht ist, geht es aber darum, wieder umzukehren. Die Mitte des Labyrinths wendet meinen Blick dorthin, von wo ich gekommen bin. Daher gilt auch: Der Weg aus dem Labyrinth heraus ist im Letzten sogar der wichtigere von beiden. Deswegen ist es gut, die Menschen meines Alltags, meine Arbeit, meine Aufgaben in der Mitte des Labyrinths im Herzen zu bewegen: Was bedeuten mir eigentlich die Menschen, die mir nahe stehen? Was ist eigentlich meine Aufgabe? Wo ist mein nächster Schritt? Vielleicht führen mich diese Fragen so weit, dass ich merke: Die Heimat ist gar nicht dort, wo ich es meinte, und die Aufgaben meines Lebens sind ganz andere, als ich dachte.
An dieser Stelle zur Minotaurus-Sage: Theseus muss in das Labyrinth, um das Ungeheuer (und somit auch sich selbst) zu besiegen. Seine geliebte Ariadne gibt ihm einen Faden mit, den er am Eingang des Labyrinths befestigt, um so wieder zurückzufinden, den berühmten Faden der Ariadne. Und an dieser Stelle stellt sich doch (nach allem, was wir über das Labyrinth wissen), die Frage: Wieso hat Theseus einen Faden gebraucht, um aus dem Labyrinth herauszufinden? Es gibt doch sowieso nur einen Weg, hat er das denn nicht gemerkt? Gernot Candolini hat darauf eine simple Antwort: „Für einen Mann ist es immer leichter, zu einer Heldentat aufzubrechen als zur Liebe.“
Die Mitte ist ein seltsamer Ort. Sie trägt, sie schützt, sie tut gut. Aber irgendwann weiß ich, dass das noch nicht alles war. Ich muss wieder zurück. Und dieser Weg aus dem Labyrinth heraus ist weitaus unspektakulärer als der Weg hinein. Ein Weg mit weit weniger Eindrücken und Ereignissen. Ein eher stiller Weg. Aber genau auf diesen Weg kommt es an.
Christophorus Goedereis

Der Kapuziner-Pater Christophorus Goedereis war Cityseelsorger in Frankfurt am Main und ist heute Provinzial der Rheinisch-Westfälischen Kapuzinerprovinz.
Sein Text stammt aus dem Buch: Bewegt werden. Der spirituelle Fastenbegleiter, herausgegeben von Erich Purk. ISBN 3-460-27119-1.

9. Juni 2021