Für 26 schädliche Stoffe gibt unsere Trinkwasserverordnung derzeit Grenzwerte vor – und wiegt uns damit nur in scheinbarer Sicherheit, denn allein in Europa gibt es mehr als 100.000 synthetische Chemikalien, die zum Großteil ins Wasser geraten und zur Gefahr für Mensch und Tier werden können.
Der 24. Mai 2006 war ein schwarzer Tag für die Stadtwerke Arnsberg. An diesem Tag zwangen Messergebnisse den Wasserversorger der nordrhein-westfälischen Kleinstadt zu sofortigem Handeln: Im Trinkwasser waren bedenkliche Mengen des Umweltgiftes PFT gefunden worden. – Mengen, die kurze Zeit später auch von der Trinkwasser-Kommission des Umweltbundesamtes als zu hoch eingeschätzt wurden: Statt des Zielwertes von 0,1 µg (1 Millionstel Gramm) pro Liter, wie es Toxikologen für derartige Substanzen langfristig für tolerabel halten, war bei Trinkwasser der Wassergewinnungsanlage Möhnebogen die fünffache Menge (0,56 µg) gefunden worden. Die so genannten perfluorierten Tenside sind in vielen Alltagsgegenständen – Textilien, Teppichen, Teflon-Pfannen oder Reinigungsmittel – enthalten und stehen im Verdacht, Krebs auszulösen. Die Wasserwerke Arnsberg reagierten umgehend und verschickten als Sofortmaßnahme Mineralwasser-Gutscheine für Schwangere und Säuglinge. Parallel bauten sie in ihre Trinkwasser-Aufbereitungskette Aktivkohlefilter ein, mit deren Hilfe sie die PFT-Konzentrationen unter die Nachweisbarkeitsgrenze drücken konnten. (10 ng/l = 10 Milliardstel Gramm pro Liter). Kosten der Aktion: 452.680 Euro.
Ein Aufwand, der durchaus gerechtfertigt war, wie sich herausstellte. So fand eine „Human-Bio-Monitoring-Studie“ der Ruhr-Universität Bochum heraus, dass die durch die Trinkwassergewinnungsanlage Möhnebogen versorgten Konsumenten die fünf- bis achtfachen PFT-Werte im Blut hatten, als Vergleichskunden im Sauerland. Perfluorierte Tenside können sich in Leber, Niere und Gallenblase anlagern und werden nur sehr langsam im Körper wieder abgebaut. Auch wenn die Experten im Falle Arnsberg trotz alledem offiziell keinen Grund zur Beunruhigung sehen, lässt sich doch eines festhalten: Trinkwasser wird immer mehr zum Chemiecocktail, in dem Stoffe enthalten sind, die dort nicht hingehören.
Mehr als 25.000 Tonnen Arzneimittel wandern ins Klo
Beispiel Arzneimittel: Vom Antibiotikum bis zum Röntgenkontrastmittel, vom Empfängnisverhütungsmittel bis zum Antiepileptikum wurden mittlerweile eine ganze Reihe pharmazeutischer Wirkstoffe im Trinkwasser gefunden. Die Zahlen sind erschreckend: Rund 30.000 Tonnen Arzneimittel werden in Deutschland jährlich verabreicht und das meiste davon gelangt in den Wasserkreislauf. Denn von den eingenommenen Medikamenten werden mehr als 85 Prozent vom Körper ausgeschieden und über die Toiletten in die Kanalisation gespült. Auch von dem Drittel verschriebener Medikamente, die die Patienten erst gar nicht einnehmen wandert ein Großteil ins Klo und stellt für die Kläranlagen eine kaum zu bewältigende Herausforderung dar. Weltweit gibt es derzeit noch keine einzige Trinkwasserverordnung, die Medikamentenrückstände berücksichtigt. Doch die Trinkwasserkommission hat das Problem erkannt und arbeitet intensiv daran: „Wir wollen erreichen, dass jedwede Substanz, die im Trinkwasser nichts zu suchen hat oder deren Wirkung noch nicht bekannt ist, auf einen Minimalwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter Trinkwasser reduziert wird“, sagt Professor Martin Exner, Direktor des Instituts für Hygiene und Öffentliche Gesundheit am Universitätsklinikum Bonn und zugleich Vorsitzender der Trinkwasserkommission.
Röntgenmittel im Trinkwasser
Es ist ein Bumerang, der früher oder später auf die Verbraucher zurückschlägt. Denn Wasser aus Kläranlagen oder Mülldeponien sickert ins Grundwasser, aus dem die Wasserwerke später wieder Wasser gewinnen. Ein Test der Zeitschrift Feinschmecker hatte bereits im September 2006 ergeben: „Die Qualität zeigt enorme Schwankungen“. In elf deutschen Städten hatte die Redaktion Wasser aus öffentlichen und privaten Gebäuden abzapfen lassen – vom Berliner Reichstag bis zum Kölner Hauptbahnhof – und die Stichproben in eines der modernsten chemischen Labore Deutschlands geschickt, dem Institut von Professor Walter Jäger in Tübingen. Untersucht wurden: Pestizide, Schwermetalle und Medizinrückstände, für die es bisher keine gesetzlich festgelegten Grenzwerte gibt, insbesondere: Antiepileptika und Antibiotika, Schmerzmittel, Lipidsenker, Entzündungshemmer, Zytostatika (Krebsmedikamente) und Röntgenkontrastmittel. Die Ergebnisse waren erschreckend: Im Trinkwasser aus Berlin und Dortmund fand Professor Jäger Entzündungshemmer, Mittel gegen Epilepsie und vor allem verschiedene Röntgenkontrastmittel wie Amidotrizoesäure. Die Ergebnisse überraschten auch ihn: „Ich bin sprachlos angesichts der Höhe der einzelnen Werte, für die wir keine Vergleichsuntersuchungen haben. Wir konnten die Werte zuerst kaum glauben und haben zweimal nachgemessen“, so zitiert der Feinschmecker den Experten. Zwar lagen die gemessenen Werte im Nanogramm-Bereich (also Milliardstel Gramm) dennoch hält Professor Walter Jäger laut Feinschmecker diese Mengen „für gravierend“.
Für Aufsehen sorgte Anfang 2007 auch eine Studie der Universität Oxford. Umweltforscher um Andrew Singer wollten wissen, was passieren würde, wenn Millionen von Menschen während einer Grippewelle das Grippemittel Tamiflu einnehmen, das sie immerhin zu 90 Prozent anschließend wieder ausscheiden. Im Abwasser überwindet Tamiflu Kläranlagen fast vollständig und fließt in die Umwelt. Das Ergebnis: Tamiflu wäre im Wasser gerade so hoch konzentriert, dass sich die meisten Grippeviren nicht mehr in Vögel vermehren würden, wenn diese davon trinken. Einige widerstandsfähige Erreger könnten aber überleben und sich zu resistenten Keimen entwickeln. Eine der wenigen wirksamen Waffen gegen die Grippe wäre dann plötzlich stumpf.
Schadstoffe mit Langzeitwirkungen
Wer suchet, der findet: „Hört auf, Doktoren an die neuen Geräte zu setzen, dann findet Ihr auch keine Schadstoffe mehr“, so lautet der flapsige Rat, den Dr. Tamara Grummt immer wieder erhält. Als Leiterin des Fachgebietes „Toxikologie des Trink- und Badebeckenwassers“ des Umweltbundesamtes wird sie immer wieder angefragt, wenn die Chemiker der Wasserwerke neue Substanzen im Trinkwasser finden. Und diese Aufgabe hält sie für äußerst wichtig für die Zukunftsvorsorge. Denn Umweltschadstoffe entfalten Langzeitwirkungen. Die Expositionen von heute führen oftmals erst nach 10 bis 15 Jahren zu Erkrankungen. „Ein Leben mit chemischer Vergangenheit“ nennt Grummt dieses Phänomen und es kann schlimme Auswirkungen haben, wenn dieses Leben mit chemischer Vergangenheit bereits im Säuglingsalter beginnt. Erste Priorität bei ihren Untersuchungen hat deshalb die so genannte „Gentoxizität“ eines Umweltstoffes. Sie kann zu Krebs, Unfruchtbarkeit oder Erbkrankheiten führen und wird über Generationen weitervererbt.
Die gute Nachricht: Wenn man die Auslöser-Substanzen meidet, lässt sich nach Beobachtung von Tamara Grummt sogar die Entwicklung von Tumoren in einem frühen Stadium stoppen oder sogar rückgängig machen. In diesem Sinne ist es notwendig, ganz besonderes Augenmerk auf die Qualität des getrunkenen Wassers zu legen. – Und darauf, Wasser nicht durch das eigene Verhalten zu belasten.
Nachhaltiger Umgang mit Arzneimitteln
Diese Einsicht setzt sich auch in Expertenkreisen immer mehr durch. Notwendig ist ein gemeinsame Strategie vieler Fachrichtungen, die eine nachhaltige Arzneimittelentwicklung, den umweltbewussten Einsatz der Medikamente durch Ärzte, Apotheker und Patienten sowie eine weiter optimierte Abwasserbehandlung zusammenschließt. Nicht zuletzt kann jeder Einzelne sofort aktiv werden: Indem er den eigenen Medikamentenkonsum so weit wie möglich reduziert und nicht verwendete Mittel statt in die Toilette zu kippen, in der Apotheke zurückgibt.
Foto: Monika Frei-Herrmann
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Beitrag Arzneimittel im Abwasser: Das kann jeder tun