Zusatz-Information: Pädagogik und Empathie
Der Fall Maria (Name geändert)
„Ich unterrichte Physik in einer 8. Klasse. Zu Beginn der Stunde Anfang Dezember bat ich eine Schülerin (Maria) zur Tafel. Leider konnte die 13-jährige Maria, die an sich eine leistungsstarke und ehrgeizige Schülerin ist, nur einen Teil meiner Fragen beantworten. Sie wirkte irgendwie nervös und geistesabwesend. Ich notierte die Note „ausreichend“ in meine Schülerliste. Als Maria nach der Stunde nach ihrer Leistung fragte, die ich nur mit „Vier“ bewerten konnte, fing sie heftig an zu weinen. Ja, es schüttelte sie so richtig durch. Betroffen fragte ich sie, was mit ihr denn los sei.
Da brach es aus ihr heraus: Am Wochenende hatte sie nachts wach in ihrem Bett gelegen. Vom benachbarten Schlafzimmer ihrer Eltern konnte sie deren Auseinandersetzung hören. Sie hatten beschlossen, sich zu trennen. Das war ein heftiger Schock für Maria. Da sie sich irgendwie schuldig an den Partnerproblemen ihrer Eltern fühlte, hatte sie es bisher nicht gewagt, mit ihnen darüber zu sprechen. Daher war sie mit ihrer großen seelischen Not und ihren Verlustängsten allein. Sie fühlte sich isoliert.
Als ich das hörte, war ich insgeheim froh, dass nun alles rauskam, was Maria offensichtlich so sehr belastete. Gleichzeitig berührte mich das Vertrauen von Maria in mich als einen ihrer Lehrer sehr. Da ich eine Freistunde hatte, hörte ich ihr einfach zu und sagte ihr, dass sie immer zu mir kommen und mit mir über alles reden könne, so wie jetzt gerade. Ich wusste, dass ich natürlich das Problem von Maria mit ihren Eltern nicht lösen konnte, aber ich konnte feststellen, dass es ihr danach ein bisschen leichter ums Herz war, weil sie ihre Ängste rausgelassen und zumindest einer erwachsenen Person anvertraut hatte. Der Lehrerin der nachfolgenden Stunde gab ich in der Pause Bescheid, warum Maria um fast eine Viertelstunde zu spät in ihren Unterricht gekommen war.
Eine Woche später war Elternsprechabend. Wie durch „Zufall“ kam auch die Mutter von Maria. Da wir nur maximal zehn Minuten Zeit hatten, konfrontierte ich die Mutter sofort mit der Not ihrer Tochter. Die Mutter fiel als allen Wolken, weil sie davon nichts wusste und begann nun ihrerseits, heftig zu weinen. Ich bekam den Eindruck, dass nun einerseits ihr Partnerschaftsproblem zumindest bei mir als dem Physik-Lehrer von Maria öffentlich geworden war; das war ihr peinlich. Gleichzeitig war es wie ein Stich für sie, weil sie nun die große Not und die Ängste ihrer Tochter spüren konnte. Sie bedankte sich sehr für dieses Gespräch und für meine Information, bat mich aber gleichzeitig, Maria nichts von dieser Unterredung zu erzählen. Daran hielt ich mich natürlich.
Ende Januar stand Maria nach einer Physik-Stunde wieder vor mir – diesmal erleichtert, ja sogar ein bisschen strahlend. Sie teilte mir mit, dass ihre Mutter nun über alles mit ihr gesprochen hatte, auch über meine Unterredung mit ihr am Elternabend. Mit ihrem Vater hatte es ebenfalls eine offene Aussprache gegeben. Diese führte letztendlich dazu, dass die Eltern nun auf jeden Fall zusammen bleiben wollten. Die verständliche Not ihrer Tochter hatte sie anscheinend sehr erschüttert und ihnen bewusst gemacht, wie wichtig sie für ihr Kind seien, die gerade mitten in der Pubertät steckt und beide Eltern braucht.
Nun bedankte ich mich ausdrücklich bei Maria für ihre Offenheit, ihr Vertrauen, ihre Kraft, das alles durchzustehen und für diese Rückmeldung, die für mich wie der vorläufige Abschluss eines intensiven psychologischen und pädagogischen Prozesses war. Bleibt noch zu erwähnen, dass sie im weiteren Verlauf des Schuljahres nicht mehr zu mir kam. Maria wusste aber, dass sie jederzeit wieder mit mir reden konnte. Sie wirkte nun auf mich viel gelassener.“