Wer kennt es nicht, das alte Sprichwort: „Der Ton macht die Musik“. Und tatsächlich, im Laufe der Zeit stellt man fest, dass es wirklich nicht nur auf  Worte ankommt, ob man innerlich berührt, in den Bann geschlagen oder verletzt wird. Es ist vor allem auch der Klang der Stimme, auf die es ankommt. Klänge bewegen sowohl Herz und Verstand und beeinflussen damit unser Bewusstsein und Unterbewusstsein zugleich. Von Eva von Hase-Mihalik.

Schon seit Beginn der Menschheit war die Stimme das Instrument, um sich  in Ritualen und Zeremonien seiner selbst zu vergewissern, ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen und um Einfluss auf die Natur und ihre Gezeiten zu nehmen. Noch heute wird in schamanischen Traditionen der Gesang des Schamanen zum Heilen von Krankheiten eingesetzt. Die in Indien gesungenen, jahrtausende alten Sanskrit Mantren sollen vor allem durch die Klangstruktur der Worte eine heilende Wirkung haben. Deswegen ist heute das „chanten“ von Mantras auch in westlichen Kulturen ein neuer Trend in spirituellen Kreisen. Nach hinduistischer Vorstellung haben die Klangmuster immer wiederkehrender Verse und deren Melodien eine befreiende Wirkung auf Körper und Geist. Sie sollen dabei helfen, Ängste und Verspannungen aufzulösen, das beruhigende Urvertrauen und die Verbindung  zum universellen Göttlichen wiederherstellen.
Und das ist, wie neueste medizinische Forschungen zeigen, wissenschaftlich nachvollziehbar – für fast alle Arten von Gesang. Mit hoch sensiblen Messungen des Herzschlags wies der Schweizer Mediziner Prof. Maximilian Moser nach, wie sich durch Singen und Musizieren der Herz-Rhythmus reguliert und sich auf das gesamte rhythmische System des Körpers harmonisierend auswirkt. Der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger, Autor des bemerkenswerten Buches über „Die heilende Kraft des Singens“, beschreibt im Zusammenhang mit Mosers Forschung den körperlichen Rhythmus als regelrechtes Netzwerk fein aufeinander abgestimmter Schwingungsvorgänge.

Durch Gesang und Musik die Körper-Rhythmen harmonisieren
In uns schwingen Nervenimpulse im Rhythmus von Millisekunden. Atmung, Herzschlag und Blutdruck vollziehen sich im Sekundenbereich, andere Körperfunktionen vollziehen sich in viel längeren Intervallen. Körperliche und seelische Gesundheit hat viel zu tun mit dem harmonischen Zusammenspiel dieser Körper-Rhythmen. Wenn dieses durcheinander gerät, werden wir krank. Phantastischerweise ist es nach diesen Studien möglich, mit Gesang und Musik dazu beizutragen, diese körperlichen Rhythmen zu harmonisieren.
Kinder im Vorschulalter zeigten in einer Untersuchung („Singen in der Kindheit“, von Adamek und Blank), dass regelmäßiges Singen sowohl die Koordination, als auch eine bessere Sprachentwicklung ermöglicht. Es fördert die Intelligenz, die soziale Kompetenz und wirkt präventiv gegen Gewalt. Leider ist es allerdings so, dass Musik heute eines der Unterrichtsfächer ist, die am häufigsten ausfallen. Doch ein Bundesland, Nordrhein-Westfalen, hat sich mit seiner Initiative in Münster mit dem Projekt „Jedem Kind seine Stimme (JEKISS)“ zu einem Vorreiter für eine Entwicklung gemacht, die bundesweit beispielhaft sein sollte: Ziel dieses Projekts ist es, jedes Grundschulkind unabhängig von Bildung, Kultur oder sozialem Stand mit Gesang zu erreichen. Zentraler Ansatzpunkt von JEKISS ist eine Kombination von Förderung des Kinderchors und Lehrerfortbildung. Die Kinder, die bereits im Schulchor sind, erfahren die intensivste Förderung. Sie lernen über aktives Singen, Bewegen, Spielen und Sprechen, wie sie die eigene Stimme einsetzen  können. Und sie sind dann in ihren Klassen quasi die Keimzellen der singenden Klasse. Sie sind die Fixpunkte, an denen sich die anderen Mitschüler orientieren können. Alle Lehrer der Schule – egal ob sie normalerweise Mathematik, Sprachen oder Sport unterrichten – werden über Fortbildungen einer Musikschule musikalisch so geschult, dass sie täglich zusammen mit ihren Schülern Sing- und Bewegungsspiele einüben können. Den Schülern bringt das so viel Spaß, dass sie das Singen einklagen, wenn ein Lehrer das inzwischen tägliche Ritual vergisst. Sie sind konzentrierter und ruhiger im Unterricht. Auch Lehrer berichten, dass sie durch das tägliche Singen insgesamt zufriedener und weniger gestresst sind.

Schlüsselrolle Atmung
Eine Schlüsselrolle für die gesundheitsfördernde Wirkung des Singens scheint hierbei in der Veränderung des Atemrhythmus zu liegen. Viele Menschen atmen zu flach und nutzen nur einen Teil ihres Lungenvolumens. Singen unterstützt die richtige Atmung. Denn beim Singen atmen wir unwillkürlich tiefer. So wird der Organismus mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt. Außerdem werden die Gehirnchemie und die hormonellen Kreisläufe beeinflusst. So kommt es bereits nach rund 15 Minuten Singen zu einer Reduktion des Stresshormons Adrenalin und zur Produktion eines regelrechten Glückscocktails aus Botenstoffen wie Serotonin und Noradrenalin. Der Musikforscher Karl Adamek behauptet sogar: „Die volle Entfaltung unserer Singfähigkeit hat mit unserer Zukunftsfähigkeit als Menschen zu tun, mit unserer Fähigkeit zu Mitgefühl, Freundlichkeit, Empathie, Selbstverantwortung und Selbstgenügsamkeit, also entscheidenden Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben“.
Also – frei nach Wolfgang Bossinger: singen, chanten oder rappen Sie bei allen sich bietenden Gelegenheiten – im Chor, in der Badewanne, beim Autofahren oder einem Karaoke-Wettbewerb. Es tut Ihnen und auch Ihrer Umgebung gut.

Foto: Ralf Emmerich

QC16L03

Bücher-Tipp

QC16L01-bossingerWolfgang Bossinger
Die heilende Kraft des Singens
Von den Ursprüngen bis zu modernen Erkenntnissen über die soziale, gesundheitsfördernde Wirkung von Gesang.
335 Seiten
Traumzeit-Verlag 2006
ISBN 978-3933825612
Preis: 26,90 Euro

 

Link Jedem Kind eine Stimme (JEKISS)
Link Dr. Karl Adamek: Pionier der Stimmforschung und der heilsamen Kraft des Singens