Der deutsche Balkon und der Vorgarten sind eine grüne Wüste: Der Rasen ist keine vielfältige Blumen-Wiese, sondern meist steriles Golf-Green, Koniferen, Oleander, Bambus, Schilfgras – meist teures Grün vom Garten-Center. Aber man kann auch vom Balkon und besser noch aus dem Vorgarten leben. Ein paar Regeln für Gärtner in der Stadt, ausprobiert von Roland Tichy in Frankfurt.

Garten braucht nicht viel Platz. Etwas Erde und viel Licht, und los geht’s. Dabei ist die kleinste praktizierbare Fläche das Fensterbrett. Deutschlands größte ungenutzte Fläche ist die Vertikale – unsere Fensterflächen, Balkone, Hauswände. Lange galt Grün als Gift – Wand oder Grün, das war die Frage. Aber keine Angst – grün ist die Zukunft auch unserer Fassaden. Mut zu Grün lautet die Devise. Bald werden Ihnen auch Bienen, Hummeln, Vögel die Ehre eines Besuchs erweisen, und zwar mitten in der Großstadt.
Grün war lange ein Kunstprodukt – machen Sie es zum Lebensmittel. Einige Töpfe mit Tomatenpflänzchen wuchern, blühen und tragen ab Juli leuchtend rote Früchte, bis diese in die Salatschüssel wandern. Nichts ist so frisch wie die Tomate, Zucchini, Gurke, Bohne vom Balkon. Alles wächst. Vergessen Sie die typischen Balkongewächse, ziehen Sie Ihr Standardgemüse. Gemüsepflanzen sind extrem preiswert. Das schafft Luft für Experimente. Himbeeren? Wunderbar. Stachelbeeren, Johannisbeeren, sogar simple Apfel- und Birnbäume (nicht die teuren Balkonzüchtungen!); nur die Topfgröße begrenzt die Ernte.

Der neue Garten ist nicht aus Ton
Ton-Gefäße sind natürlich, schön, aber teuer und schwer. Erde findet überall Platz – selbst in den blauen Mülltüten. (Wichtig sind ein paar Löcher für den Wasserabfluss, denn Staunässe ist meist Gift.) Von der alten Konservenbüchse (schon etwas grenzwertig) über den Plastiktopf, den mit Einkaufstüten ausgekleideten Jutesäcken bis zum edlen Desig-ner-Topf: Die Pflanze wächst, wo man ihr Erde, Luft, Licht und Wasser gibt. Design ist ihr eher gleichgültig. Also nicht beeindrucken lassen vom Stil-Terror der Wohnzeitschriften – billig wächst meist besser.
Gemüse aus dem Supermarkt ist Wegwerfware – billig, schnell faulend. Selbstgezogenes Gemüse erfordert Schweiß, manchmal Tränen, viel Arbeit. Es lehrt uns aber Dankbarkeit. Natur ist wertvoll. Leider
erbarmungslos unromantisch. Viel Gießen muss sein, manchmal zweimal am Tag. Wer gießt während Ihres Wochenendausflugs? Pflanzen erfordern nicht weniger Sorgfalt und Pflege als Haustiere. Sie danken es Ihnen leise, mit kräftigem Wuchs. Und brauchen durchaus Düngemittel, manchmal Chemie. Nehmen Sie geschädigte Pflanzen mit zum Gartenhandel. Dort, wo es fachmännischen Rat gibt, kann man Kunde werden und bleiben. Es gibt sie noch, die Pflanzendoktoren.
Die hohe Kunst ist die Fassade vor der Fassade. Im einfachsten Falle reichen ein paar gespannte Schnüre, an denen Bohnen in das nächste Stockwerk hochwachsen, oder ein Topf mit Stangen für Tomaten. Vor Ihrem Fenster oder Balkon bildet sich eine grüne Wand dann, wenn die Sonne sticht und gibt ihr den Weg frei, wenn wir Sonne brauchen, also ab Herbst. Die nächste Stufe ist die begrünte Hausfassade, mit Balkonen, Pflanzgerüsten, Spalieren. Schaffen Sie Distanz zwischen Wand und Grün, einige Zentimeter genügen. Das ist ein Isolierpolster und Luftraum für Pflanzen, gut durchlüftet kann so kein Schimmel oder eine andere Beschädigung der Wand entstehen.

Die Kunst des Vertikal-Gartens verlangt:
Experimentieren Sie! Bei mir wächst ab Februar/März Salat im Wintergarten und ist reif, wenn unser Grünhunger am höchsten ist, etwa ab April. Das Geheimnis: Des Salats größter Feind ist die Schnecke – aber die schafft es nicht auf den Balkon, eindeutiger Standortvorteil für Vertikalgärtner. Demnächst werde ich ein Fass mit drei Ebenen Kartoffeln anlegen, das war früher in englischen Bergarbeitersiedlungen selbstverständlich. Feigen sind fein, Kiwis brauchen sehr viel Licht, Zitronen und Orangen brauchen ewig, sie galten lange als Geschenk der Götter, jetzt weiß ich warum. Übrigens: Oliven brauchen sechs Tage Frost, im Winter langt eine warme Umhüllung, ich lege für besonders kalte Tage weihnachtliche Lichterketten als Wärmequellen unter die weiße Gaze, Christo wäre neidisch. Aber dafür gibt’s selbst eingelegte Oliven vom Balkon. (Suche allerdings noch ein gutes Rezept fürs Einlegen) Ach ja, füttern Sie im Winter die Vögel mit Sonnenblumenkernen,  zwischen den kahlen Töpfen. Ab Frühjahr werden neue Sonnenblumen Ihr Herz betören, und neue Früchte produzieren für den kommenden Winter. Der Kreislauf schließt sich. Und in andere Töpfe können Sie ja schon mal im Oktober Knollen von Narzissen und Tulpen einlochen. Für einen bunten März, wenn sonst die Tage noch so grau sind.

Foto:Roland Tichy
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