Interview: Das unsichtbare Netz des Lebens

Wie Mikrobiom, Biodiversität, Umwelt und Ernährung unsere Gesundheit bestimmen hat Martin Grassberger umfassend in seinem Buch „Das unsichtbare Netz des Lebens“ beschrieben. Am Rande des IG FÜR-Symposiums konnte Quell den vielseitig interessierten Professor zu dieser faszinierenden Materie befragen. 

Quell Herr Professor Grassberger, wie würden Sie das unsichtbare Netz des Lebens auf einen Nenner bringen, was kann man sich darunter vorstellen?

Prof. Grassberger Ja, das ist ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Es ist vielfältig. Das Netz des Lebens setzt sich aus vielen Fäden zusammen. Es verbindet alle Lebewesen und alle Lebensräume miteinander. Wir sind sowohl räumlich als auch zeitlich alle miteinander und mit unserer Umwelt verbunden. Und das sind einerseits die Punkte Evolution und Genetik, die zeigen, dass wir mit allen Lebewesen sehr viel gemeinsam haben, es sind aber auch Mikroorganismen. Man könnte sagen, das Mikrobiom ist das Netz des Lebens und das ist es wohl, wenn wir die Welt global betrachten. Auch der Lebenskreislauf ist hier berücksichtigt. Mein Buch beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Und dann werden alle diese Nährstoffe und Verbindungen durch Mikroorganismen wieder recycelt.

Quell In Ihrem Buch führen Sie aus, dass der Mensch zu etwa 50 Prozent aus fremden Mikroorganismen besteht. Was hat das für Konsequenzen?

Prof. Grassberger Es sind gerade die mit uns lebenden Mikroorganismen, die uns in unglaublichem Maß mit unserer Umwelt und der Biosphäre des Planeten verbinden. Sie sind quasi das unsichtbare Lebenserhaltungssystem sowohl des belebten Planeten als auch von uns. Maßgeblich beeinflusst werden sowohl die Mikroben als auch die epigenetischen Mechanismen von einem Produkt unserer Umwelt, unserer Nahrung, die wir aufgrund unserer langen Evolution und individuellen Ausstattung mal besser, mal schlechter vertragen.

Unbelastete Lebensmittel

Quell Worauf sollten wir bei unserer Ernährung achten?

Prof. Grassberger Es besteht eine fundamentale Abhängigkeit von unbelasteten, frischen Lebensmitteln. Es ist wichtig, dass die Menschheit die zentrale Bedeutung der Beziehung zwischen Mikroben und anderen Organismen für die Gesundheit des Einzelnen und der Umwelt anerkennt. Aber eine simple Formel zur Erlangung oder Beibehaltung von Gesundheit existiert nicht. 

Quell Was kann jeder tun, um das Netz des Lebens schön gewoben zu lassen, es zu schützen, es vielleicht auch wieder zu regenerieren?

Prof. Grassberger Ja, Regenerieren ist ein guter Begriff. Es ist eine sehr lapidare Empfehlung: Sich dafür zu interessieren. Und nicht das, was öffentlich kolportiert wird, wahrzunehmen und alles zu glauben, was einem das Fernsehen und die Werbung sagt, sondern sich tiefergehend mit den Dingen auseinanderzusetzen. Die Ernährung ist ein ganz wichtiger Punkt, sie ist immerhin die Grundlage unseres Lebens. Ich bin, was ich esse, das ist schon eine alte Weisheit, aber sie ist nach wie vor gültig. Und dann geht’s noch weiter, nicht nur, was ich esse, sondern wo’s auch herkommt, nämlich aus dem Boden. Also bin ich Boden. Und ich werde wieder zu Boden. Und bin ein Teil in dieser ganzen Welt. Und wenn man für sich da wieder den richtigen Platz findet, dann wird das eigene Leben schöner und vielleicht schafft man es dann auch als Gesellschaft leichter mit den ganzen auf uns zukommenden Problematiken.

Es sind total einfache Dinge, die unser Leben bestimmen 

Quell Was möchten Sie gerne Ihren Lesern  mit auf den Weg geben?

Prof. Grassberger Dass sie zum Nachdenken anfangen. Und aus Theorie dann auch Praxis werden lassen. Und das ist vermutlich mit Genügsamkeit und Einschränkungen verbunden. Das wird uns immer so negativ dargestellt, das ist aber positiv. Die Leute geben viel Geld aus, damit sie in irgendwelche Retreats gehen, um sich selbst zu finden. Das kann man aber kostenlos haben, indem man sich einfach reduziert. Und das Leben wird dann besser, auf das Wesentliche eingeschränkt. Aber da ist unsere Umwelt nicht sehr hilfreich durch die permanente digitale Bedudelung. 

Quell Das Buch ist sehr komplex. Was ist Ihr Lieblings-Thema?

Prof. Grassberger Eigentlich das, was sich in dem Buch wie ein roter Faden durchzieht: Das Unsichtbare sichtbar zu machen, also an die Oberfläche zu holen. Weil es total einfache Dinge sind, die unser Leben bestimmen. Und trotzdem externalisieren wir die ganze Zeit. Kaufen uns einen Mechaniker namens Arzt, kaufen uns irgendwas dazu, eine glücklich machende Sache aus dem Drogeriemarkt und dabei ist alles schon da. Den Leuten mitzugeben, dass die besten Dinge nichts kosten, das ist das, was ich am meisten mag an dem Buch und wo ich auch in Zukunft die Aufgabe sehe. 

Quell Auf ihrem Foto sind Sie mit einem Hund abgebildet, warum?

Prof. Grassberger Es ist einer von zweien. Die Hunde leben in unserem Familienverband. Und da gibt es schöne wissenschaftliche Untersuchungen, dass gerade der Hund ein super Überträger vom Mikrobiom ist, von den Mikroorganismen der Umwelt. Und das ist das Spannende. Man hat sich in Familien das Mikrobiom der ganzen Familienmitglieder angeschaut und die Diversität des Mikrobioms dieser Familienmitglieder ist dann am höchsten, wenn es in der Familie einen Hund gibt, der das permanent zwischen den Leuten überträgt. Der Hund ist als Makroorganismus genauso ein Holobiont wie wir alle. Der Hund ist der älteste Weggefährte des Menschen und er ist uns ähnlicher, als wir glauben.

Der Mensch als Holobiont

Die grundlegenden Lebensprozesse auf unserem Planeten werden durch Mikroben erst möglich. Diese enge Beziehung zu unseren Mikroorganismen, allen voran den Bakterien, macht komplexe Lebewesen wie den Menschen zu so genannten Holobionten, zu Gesamtlebewesen von einem Wirt mit seinen Mikrobiota. Unter Mikrobiota versteht man die Gesamtheit aller Mikroorganismen und unter Mikrobiom deren gesamtes genetisches Repertoire und deren Stoffwechselprodukte. 

Der menschliche Körper besteht aus etwa 30 Billionen Körperzellen und 38 Billionen Bakterien. Die Bedeutung unseres Mikrobioms ist vor allem daran zu erkennen, dass unsere Körperzellen jeweils lediglich etwa 23.000 Gene besitzen, wir aber in unserem Mikrobiom gut zwei Millionen bakterielle Gene mit uns tragen. Das bedeutet, dass wir zumindest aus genetischer Sicht 99 Prozent Mikrobe sind. 

Der Experte

Univ.-Prof. Mag. Dr. Dr. Martin Grassberger ist Mediziner, Biologe, landwirtschaftlicher Facharbeiter, Ernährungs- und Umweltmediziner und Facharzt für Gerichtsmedizin. Er lehrt unter anderem an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und an der Medizinischen Fakultät der Sigmund Freud Universität Wien in den Fachgebieten Human- und Gesundheitsökologie, Umwelt- und Ernährungsmedizin, Evolutionäre Medizin, Forensische Medizin und Pathologie. Martin Grassberger ist Autor zahlreicher Publikationen. Sein Buch „Das leise Sterben“ wurde in Österreich Wissenschaftsbuch des Jahres 2020 in der Kategorie Naturwissenschaft/Technik. Mit dem Buch „Das unsichtbare Netz des Lebens“ ist es ihm gelungen, ein faszinierendes Gesamtbild der Lebensvorgänge zu zeichnen.

BUCH-TIPP

Das unsichtbare Netz des Lebens

Martin Grassberger

Residenz Verlag
ISBN 978 3 7017 3535 8 445 Seiten, 28 Euro

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