Wenn Markus Meincke mit seiner Chefin spricht, ist kein Ton zu hören. Gerade deutet er mit dem rechten Daumen zum Oberkörper und spreizt den kleinen Finger ab. „Interessant“ heißt das. Die beiden unterhalten sich in Gebärdensprache. Meincke ist taub. Das ist keine schlechte Voraussetzung, um bei VerbaVoice zu arbeiten. Von Christine Mattauch.
Die Münchner Firma VerbaVoice bietet eine Software der besonderen Art – sie hilft Gehörlosen, den Alltag zu bewältigen. Ihre Online-Plattform sorgt dafür, dass Hörgeschädigte auf Konferenzen, in Vorlesungen oder bei politischen Debatten alles verstehen. Das funktioniert so: Der Vortragende steckt sich ein kleines Mikrofon ans Revers. Der Ton wird zu einem Dolmetscher übertragen, der irgendwo auf der Welt sitzen kann. Der übersetzt in Gebärdensprache, sein Bild wird per Videoübertragung auf dem Smartphone oder Laptop des Gehörlosen eingeblendet. Ähnlich funktioniert das mit Schriftdolmetschern, deren Mitschrift live über den Bildschirm läuft. Einige von denen, die für die Tauben den Ton in Schrift umwandeln, sind blind, erklärt Meincke. Der freundliche junge Mann betreut bei VerbaVoice den Dolmetscherpool.
Ein soziales Jahr und seine Folgen
Wie kam es 2009 zur Firmengründung? Michaela Nachtrab, eine schlanke Frau mit Pagenschnitt, sagt nachdenklich: „Schicksal irgendwie.“ Nach dem Abitur habe sie sich nicht für einen Berufsweg entscheiden können und erst einmal ein freiwilliges soziales Jahr absolviert – in einer Gehörloseneinrichtung. Die Arbeit begeistert sie so, dass sie Gehörlosenpädagogik studiert. Später baut sie für den Reha-Dienstleister Salo regionale Niederlassungen auf und hilft Hörgeschädigten bei der Integration ins Arbeitsleben. „Da habe ich gesehen, wie viel es noch zu tun gibt.“ So gibt es in Bayern nur eine einzige Schriftdolmetscherin. Sie erzählt ihrem Mann davon, einem Informatiker. „Da sagte er: Das machen wir online!“ Es ist die Geburtsstunde von VerbaVoice. Heute, sieben Jahre später, ist VerbaVoice ein Vorzeigeunternehmen. Inklusionspreis, Bayerische Staatsmedaille, Gründerpreis der KfW, Industriepreis – mehr als 30 Urkunden hängen an der Wand des Treppenaufgangs. Die 42jährige Chefin geht ungezwungen mit ihren Beschäftigten um. Mitten in ihrem Büro steht eine große Tasche mit grünen Henkeln. Nachtrab räumt sie zur Seite und erklärt: „Babyklamotten.“ Was ihre beiden Kinder abgelegt haben, gibt sie an Mitarbeiterinnen weiter. Es ist ein echter Familienbetrieb. Auch Ehemann Robin Nachtrab-Ribback arbeitet hier, als Technischer Leiter. Im IT-Bereich sitzt er vor einem großen Bildschirm und tippt konzentriert auf der Tastatur. „Ich glaub’, den stören wir jetzt nicht“, schmunzelt seine Frau. Statt dessen demonstriert Marko Nalis, einer der Entwickler, wie VerbaVoice sein Kernprodukt weiter entwickelt: Eine Spracherkennungs-Software, die automatisch Untertitel generiert, kommt in Brillen zum Einsatz, in deren Gläser kleine Bildschirme integriert sind. Diese Brillen sind da ein gutes Hilfsmittel, wo Laptops oder Smartphones stören, etwa im Kino oder im Theater. Die Übersetzung mag nicht perfekt sein, ist aber in mehreren Sprachen abrufbar. VerbaVoice kooperiert bei der Entwicklung mit Epson und Sony.
Der dreigeschossige Firmensitz im Münchner Osten beherbergt im Souterrain Fernsehstudios, für den Livestream bei Bundestagsdebatten und anderen Veranstaltungen, bei denen es besonders professionell zugehen muss. Nachtrab stellt sich vor den Bildschirm und erklärt, wie es funktioniert: Der Dolmetscher sieht auf dem Schirm sich selbst und den Original-Sprecher, den es zu übersetzen gilt. In weiteren Fenstern werden die Untertitel eingeblendet sowie bei Bedarf der Co-Dolmetscher – bei längeren Debatten wechselt man sich etwa alle 15 Minuten ab, damit die Konzentration nicht verloren geht. Es ist eine anstrengende Arbeit. „Danger. Genius at Work“, warnt ein Schild an der Tür. Versteht sich Nachtrab in erster Linie als Unternehmerin oder als jemand, der Gutes tut? Sie zögert kurz, sagt dann entschieden: „Ich bau’ gerne etwas auf. Aber ein Unternehmen ohne sozialen Bezug – da würde mir etwas fehlen. Eine Joghurtbecherfabrik könnt’ ich nicht.“
Gutes tun und Geschäfte machen
Etwa 200 freiberufliche Gebärdendolmetscher beschäftigt VerbaVoice, außerdem 50 festangestellte Mitarbeiter. Bei der Einstellung wird, wann immer es geht, Hörgeschädigten der Vorzug gegeben. Das hat sich herumgesprochen, „wir erhalten viele Initiativ-Bewerbungen“, sagt Nachtrab. Jeder in der Firma muss Gebärdensprache lernen, egal wie gut oder schlecht er hört. Es gibt interne Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene.
Zu den Geldgebern von VerbaVoice gehören der Social-Venture-Fonds Ananda und Bayern Kapital, die Wagniskapitalgesellschaft des Freistaats. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau ist ebenso dabei wie der französische Investor Phitrust. Sozial- oder Technikunternehmen? VerbaVoice ist beides.
Knapp 2,5 Millionen Euro setzte die Firma im vergangenen Jahr um. Nachtrab sieht das als Etappe. Für VerbaVoice gehe es jetzt darum, in Europa zu wachsen, „wir gehen in die Mehrsprachigkeit.“ Binnen fünf Jahren will sie Mitarbeiter und Umsatz verfünffachen und in mindestens vier Ländern präsent sein. Sagt sie und hält dann inne, als überlege sie, ob sie die Prognose zu hoch angesetzt hat. Doch dann nickt sie bekräftigend. Schließlich braucht man Ziele, oder nicht?
Wenn sie sich etwas wünscht, dann mehr Klarheit in den Gesetzen, die Vorgaben zur Inklusion formulieren. Die sind ihr zu schwammig und greifen zu kurz. „So wie es bei Neubauten Pflicht ist, Rampen für Rollstuhlfahrer zu planen, sollten öffentliche Veranstaltungen mit Untertiteln übertragen werden müssen.“ Davon würden auch viele Hörende profitieren, meint sie – und ihre Firma natürlich auch. Manchmal sind Gutes tun und Geschäfte machen kein Widerspruch.
Fortschreitende Schwerhörigkeit
Rund 80 000 Menschen in Deutschland sind nach Angaben des Deutschen Gehörlosen-Bundes taub – einige durch Vererbung, andere durch Schädigungen während der Schwangerschaft. Auch Krankheiten wie Hirnhautentzündung oder Schädelbruch können zu Gehörlosigkeit führen. Weitere 16 Millionen Menschen gelten als schwerhörig, häufig altersbedingt. Von ihnen hören etwa 140 000 so schlecht, dass sie auf Lippenlesen oder Gebärdensprache angewiesen sind.
Die Vorteile von VerbaVoice
Das Verfahren der Münchner Firma ist erheblich praktischer und viel kostengünstiger als früher, als Dolmetscher stets anreisen mussten. Es sichert den Gehörlosen zudem ein Stück Normalität, denn die Online-Übersetzung ist unauffällig – schließlich schauen viele Leute dauernd auf ihr Smartphone. Florian Hansing, der beidseitig schwerhörig ist und in Mönchengladbach Sozialarbeit studiert, sagt: „Es ist schön, endlich mal nicht auf andere angewiesen zu sein.“ Er nutzt in den Vorlesungen einen Schriftdolmetscher. Der Vorteil: Die Mitschrift ist später komplett als Skript abrufbar.
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Foto: VerbaVoice