Buchrezension von Florian Schwinn: „Rettet den Boden“. Geschrieben von Albert C. Sellner.

Wir stehen, ob wir uns mögen oder nicht, innerhalb gegebener Grenzen auf demselben Boden. Ein Boden, der die zentrale Eigenschaft besitzt, als Muttererde für unser aller Ernährung zu sorgen. Dieser Boden ist in Gefahr. Er wird nicht gerettet mit überspannten Weltrettungssofortmaßnahmen oder Verbotsphantasien gegen alles und jedes.

Wo solche schnellsten Problembeseitigungen in universalen Dimensionen gefordert werden – wie von den schulschwänzenden Kids – muss jede lokale, nationale oder auch länderüberschreitende Politik ihre Machtlosigkeit eingestehen. Das Vertrauen in politische Machbarkeit geht verloren, stattdessen wird Verzweiflung geschürt oder ein gewaltbereiter Radikalismus, der mit diktatorischen Kommandokonzepten kokettiert.

Die Weltanschauung der ersten wirksam tätigen Naturschützer – in den USA, in England, aber auch in Deurtschland – kreiste um Werte wie Natur- und Landschaftsschutz, Heimat, Bewahrung erprobter bäuerlicher und handwerklicher Traditionen, Achtung vor Familie und Religion. Es ging ihnen um das Terrain, auf dem wir mit unseren Nachbarn leben, das wir für unsere Nachkommen bewahren und nicht zerstören wollen. Es geht um den gemeinsamen Boden, unsere aktuelle Heimat, in der wir, die wir nicht im digitalen Raum, sondern auf der Erde leben, miteinander auskommen müssen.

Jenseits der politischen und medial angeheizten Erregungen gibt es eine Bewegung unter den normalen Leuten, die weder Partei- noch Lobbyaktivisten sind, die sich aus ganz privaten Gründen für diesen „Boden“, für das Gedeihen von heimischer Flora und Fauna interessieren. Es gibt allein in Deutschland fast 1 Million Kleingärten, an deren Pflege geschätzte 4,5 Millionen Menschen beteiligt sind. Hinzu kommt die stetig zunehmende Zahl der Biolandwirte und genossenschaftlicher Zusammenschlüsse. Bücher und Filme über Bäume, Gartenbau, „Tierwohl“ stossen auf außerordentliches Interesse. Und auf dem Feld des Biolandbaus und der Gartenkultur wimmelt es an kreativen Köpfen, Erfindern, Bastlern und experimentierfreudigen Zeitgenossen, die herumprobieren mit Permakultur, Carbon Farming, Urban Gardening, Terra Preta und anderen neuen oder wiederentdeckten traditionellen Methoden. Mit Begeisterung wird ganz praktisch und initiativ an einer menschenfreundlicheren Umwelt und gesunder Nahrungsmittelproduktion gearbeitet.

Der HR-Journalist Florian Schwinn hat aktuell ein glänzend geschriebenes Buch vorgelegt, über den Zustand des Bodens, auf dem wir alle stehen. Genaugenommen stehen wir – praktisch und im übertragenen Sinn – auf jener obersten Erdschicht, von der wir den größten Teil unserer Nahrung beziehen.

Natürlich ist der Autor dem aktuellen Zeitgeist verpflichtet, und so gibt es etliche Pflichtpassagen über die Klimakatastrophe. Wer sich davon infolge der omnipräsenten Dauerbelehrung in Politik und Medien genervt fühlt, sollte weiterblättern, es lohnt sich. Schwinn führt seine Leser auf entdeckungsreiche, amüsante Weise in eine den meisten unbekannte Welt, in das fruchtbare Erdreich, das „Edaphon“, in dem in einem einzigen Kubikmeter mehr Lebewesen hausen als es Menschen auf der Welt gibt. Seine Warnungen vor dem bedrohlichen Abbau der lebenswichtigen Humusschicht sind nicht neu. Nach Vorläufern in der Zwanzigern wie Raoul Heinrich Francés Monographie „Das Leben im Ackerboden“ wiesen schon in den 60er und 70er Jahren Wissenschaftler wie  Otto Graff, Hans Peter Rusch, die Schweizer Hans und Maria Müller, der DDR-Zoologe Wolfram Dunger und zahlreiche angloamerikanische Agronomen und Publizisten auf die Gefahren der Erosion fruchtbaren Bodens hin. Eine stetig wachsende Erdbevölkerung und langfristig sinkende Bodenfruchtbarkeitdurch rasanten Humusschwund passen offensichtlich nicht zusammen.

Jahrtausende lang gelang es Bauern, die natürliche Fruchtbarkeit der Böden zu erhalten. Erfahrung tradierte sich über Generationen wie selbstverständlich. Die moderne Wissenschaft ist mit ihren Apparaten und Testmöglichkeiten zu einer immer genaueren Kenntnis der atemberaubenden Vorgänge unter unseren Füßen gelangt. Fruchtbare Erde beruht auf dem Zusammenwirken zahlloser Hundertfüßer, Asseln, Spinnen, Schnecken, Larven, Regenwürmer, Springschwänzen, Rädertierchen, Hornmilben, Fadenwürmer, Wimperntierchen, Wurzelfüßer, Geißeltierchen, Algen, Flechten, Pilzen und Bakterien. Schwinn nimmt seine Leser in ansteckender Begeisterung mit in den faszinierenden Krabbelkosmos unter unseren Füßen.

Böden sind wie große Organismen – schonend behandelt werden sie durch lange Fruchtfolgen und tief wurzelnde Zwischenpflanzung, Mistkompost und Mulchnahrung für die Regenwürmer…

Apropos Regenwürmer: Das Internet hat einen wahren Boom von Regenwurmzüchtern befördert, die online Humuspakete mit Hunderten Würmern anbieten, und wie die Kundenreaktionen zeigen, schnell und frisch das immer beliebtere Gewürm versenden. Schon Darwin staunte über die Intelligenz der Würmer, die obgleich blind und taub „im Stande sind zu beurteilen, auf welche Weise sie Gegenstände in ihre Röhren hineinziehen können.“ Und einer der Paten der Humusforschung, der österreichisch-ungarische Botaniker Raoul Heinrich Francé formulierte 1922 seine Bewunderung mit den treffenden Worten: „Jeder Landmann muss es wissen, dass der Boden in seiner geliebten Heimatscholle nicht tot und leblos ist, sondern durchzogen von gar nicht aussprechbaren Mengen kleinster Würmchen und Tierchen, die darin Gänge wühlen, Erde fressen, verdauen und auf das allerfeinste zerkleinert und gekrümelt von sich geben.“

Mit Regenwurmgroßeinsatz ist es inzwischen sogar gelungen, in den traurigen Überbleibseln des Braunkohleabbaus, den ausgedehnten Halden, hoffnungsvolles Humuswachstum zu erzeugen.

Ein fruchtbarer Boden liefert nicht nur satte Erträge, sondern verhindert Überschwemmungen und Trockenheit. Er kann pro Minute 100 Liter Wasser aufnehmen und es im Humus speichern. Er wirkt als Filter, indem er Schadstoffe aussiebt und damit das Grundwasser sauber erhält.

Und ein wichtiger Aspekt: „Das Bodenleben baut CO2 aus der Luft in die Erde ein, indem er abgestorbene Äste und Blätter aufnimmt und Humus daraus bildet.“

Ein globaler Humusaufbau von nur 4 Promill im Jahr würde genügen, um den CO2-Gehalt der Atmosphäre auf ein ungefährliches Maß zu senken. Was einfach klingt, ist es eigentlich auch, jeder könnte mithelfen und sofort anfangen. Die Katastrophe wird verschoben.

Schwinns Formulierungsgabe zeichnet sich auch durch packende Besuchsreportagen bei den realen „Zukunftsträgern“ aus: bei Bauern und jungen Agronomen, die ihre Landwirtschaft auf Humuspflege und Förderung der Kleinlebewesen im Erdreich konzentrieren. Es sind Individualisten, die mit neugierigem Blick die Natur beobachten, daraus ihre Schlüsse ziehen und danach handeln. Das schließt die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern nicht aus. Im Gegenteil, die Höfe der „Agrarrebellen“ werden gerne von den Versuchsanstalten in die Forschung einbezogen.

Die positivsten Gestalten der notwendigen Wende zur „Bodenrettung“ sieht der Autor in Menschen, die Eigentum, ihr Stück Erde, ihre Familie, religiöse Tradition und die freie Privatinitiative wertschätzen, die sich nicht auf Brüssel oder Berlin verlassen. Mit der zentralistischen Agrarpolitik der EU, die die Landwirte auf Quantität in jeder Beziehung getrimmt hat und dadurch ganze Regionen in Depression und Armut gestürzt hat geht Schwinn nachdrücklich und versiert ins Gericht. Er unterschlägt  freilich, dass einige der zentralen Ursachen der wachsenden Agrarmisere in der Politik der rot-grünen Ära liegen, als den Landwirten verheißen wurde, sie könnten „die Ölscheichs von morgen werden“ (Kölnische Rundschau, 30.08.2004), in dem sie nur reichlich Raps und Mais als „nachwachsende Rohstoffe“ anbauen. Die sollten und werden auch zu Ethanolbenzin verspritet, dass dann auf dem Verordnungsweg dem Normalbenzin beigemischt werden muss.

Für die Vermaisung und Verapsung der Landschaft und Agrarwirtschaft findet Schwinn jedoch die richtigen Worte: „Eine gestaltete kleinräumige Kulturlandschaft ist zumindest für das Gemüt von Mitteleuropäern zuträglicher als die Agrarsteppen des Ostens oder die Maiswüsten des Nordwestens.“ Vor Jahrzehnten empfand dies so auch ein berühmter Zeitgenosse. Als Konrad Adenauer Oberbürgermeister von Köln war, musste er öfter nach Berlin zu Verwaltungsangelegenheiten reisen. Wenn der Zug sich dem Osten Deutschland näherte, soll er stets die Vorhänge im Abteil zugezogen haben, denn er ertrage „den Anblick dieser asiatischen Steppe“ nicht. Heute wird diese Steppe noch durch Windrotoren in der Höhe und gigantische, viele Tonnen schwere Landmaschinen ebenerdig bestückt, die allein durch ihr Gewicht das Leben im Boden tot drücken. Es ist in der Tat an der Zeit, die Aufgabe „Rettet den Boden“ anzugehen.

Florian Schwinn
Rettet den Boden!: Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen

  • Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
  • Verlag: Westend Verlag; Auflage: 1 (4. Juni 2019)
    ISBN: 978-3864892424
    Preis: 24 Euro