Uralte Steinkreise, heilige Quellen oder sagenumwobene Höhlen erinnern an verloren geglaubte Riten, die im Alpenraum mehr und mehr zu neuem Leben erweckt werden.

Es ist eine Begebenheit, wie sie von der englischen Kult-Schriftstellerin Marion Zimmer Bradley („Die Nebel von Avalon“) nicht besser beschrieben hätte werden können: Während einer persönlichen Lebenskrise übernachtete Rainer Limpöck an seinem Lieblingsplatz in den Bergen. Plötzlich stand ein Hirsch vor ihm. Limpöck hörte einen Schuss, der Hirsch verharrte kurz vor ihm – und verschwand. „Vermutlich haben die Jäger ihn später erlegt, aber ein Teil seiner Seele und seiner Stärke hat er mir überlassen“, so der spirituell Interessierte aus dem oberbayerischen Reichenhall. Die Suche nach einer Erklärung für diese Begebenheit führte Limpöck zum „Alpenschamanismus“, einem Netzwerk, das er vor fünf Jahren ins Leben rief. Seither haben sich rund 100 Männer und Frauen zusammengefunden, um die alten Kraftplätze und Rituale ihrer alpenländischen Heimat mit neuem Leben zu erfüllen.
Ein Beispiel für eine Veranstaltung des Netzwerkes ist die „alpenschamanistische Rauhnacht“, die Limpöck Ende Dezember im Berghotel auf dem Predigtstuhl auf 1583 Meter Höhe organisiert. „Die Rauhnächte sind in unserer Heimat eine Zeit des Besinnens, des Orakelns und der Einkehr“, beschreibt Limpöck den Zeitraum zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar. In der Bauernstube des Nostalgiehotels aus den 1920er Jahren will Limpöck jene Alpenkraft, von der er immer wieder spricht, unmittelbar erfahrbar machen: Er erzählt von Heilquellen, uralten Steinkreisen, mystischen Felszeichnungen, Durchkriechbräuchen an Spaltfelsen und dem Genius Loci – dem Geist eines Ortes. Untermalt wird das Ganze akustisch und olfaktorisch von Obertongesang, Windhorntönen, Maultrommeln und Räucherungen. Die als magisch geltenden Rauhnächte sollen geradezu dazu einladen, sich mit der mystischen Kraft des Alpenraums zu verbinden.
Doch nicht immer zeigen sich die Naturelemente nach Erfahrung von Rainer Limpöck für den Menschen zugänglich. Manchmal auch grenzen sie sich ab und machen geplante Veranstaltungen undurchführbar: Weil es in Strömen gießt, weil sich die Berge in Wolken hüllen oder weil Wege abrutschen. „Der Berggeist setzt uns immer klarere Zeichen, wann er uns zu ihm lässt“, so ist in den „alpenschamanischen News“ zu lesen, die Limpöck an Interessierte per E-Mal verschickt. Es scheint so, als könnten die alten Kultplätze Menschen nur in bestimmtem Maße ertragen. Beispiel Falkenstein, ein seit der Keltenzeit als Kultplatz genutzter Ort direkt über dem Wolfgangsee bei St. Gilgen. Der Pilgerweg dorthin ist immer mal wieder wegen Steinschlaggefahr gesperrt – die prähistorische Wallfahrt scheint sich von der modernen Zeit nicht vereinnahmen lassen zu wollen.
Trotz aller Hindernisse: Prinzipiell sieht es Limpöck als seine Aufgabe, Menschen an Orte zu führen, die besondere Kräfte ausstrahlen. Zu diesem Zweck hat er auch die Internetseiten www.alpenschamanismus.de, www.kraftort.org sowie www.untersberg.org ins Leben gerufen. Seine Frau Martina unterstützt den im Brotberuf als Sozialpädagogen tätigen Idealisten und sorgt mit ihm gemeinsam dafür, dass die Homepages mit Leben gefüllt werden. Auch wenn das Engagement der Limpöcks esoterisch anmutet, ergeben sich doch immer wieder viele Anknüpfungspunkte zur katholischen Kirche, die im oberbayerischen Raum stark verwurzelt ist. So sind an vielen ehemaligen Kultplätzen der Kelten Kirchen zu finden, und so mancher Pfarrer transformiert so wie Limpöck das mythische Erbe für die Bedürfnisse der Gegenwart. So zum Beispiel der „Untersberg-Pfarrer“ Herbert Schmatzberger, der hinter dem Friedhof seiner Großgmainer Kirche einen Marienheilgarten angelegt hat. Dieser Garten der Einkehr vereint Kunst und Natur, Philosophie, Religion, Mythologie, Astrologie und Numerologie zu einem Gesamtkunstwerk, das auch von den Alpenschamanisten gerne genutzt wird: Den dazu gehörigen Pfarrsaal nutzt Rainer Limpöck für eine alpenschamanistische Arbeits- und Trommelgruppe.
So manche keltischen Rituale finden sich in der katholischen Kirche wieder. Angefangen bei der Verehrung von Quellen, die für die Spiritualität der Kelten eine fundamentale Rolle gespielt haben bis hin zum Räuchern, das unseren keltischen Ahnen zusammen mit Wasser und Feuer mythologische Reinigungskraft bedeutete. Das Ritual des Reinigens von Haus und Hof zum Jahreswechsel mittels Rauch, das in vielen Bauernfamilien in der Nacht vom fünften auf den sechsten Januar (Dreikönig) üblich ist, „geht in den Ostalpen schlicht auf die Kelten zurück“, so schreibt der Heimatkundler und Buchautor Georg Rohrecker auf der Homepage www.diekelten.at. Diese Rituale lassen ein uraltes Wissen durchschimmern, von dem sich Zeitgenossen mehr und mehr fasziniert zeigen. Den Elementen kann’s recht sein: In einer zunehmend gefährdeten Welt ist es an der Zeit, ihnen wieder mit mehr Achtsamkeit zu begegnen.

Wasser: Spirituelle Erfahrung und Heilung
Für die Kelten spielten Quellen eine fundamentale Rolle in ihrem von der Natur geprägten Glauben: Sie sahen Quellen als Orte, wo es besonders leicht fällt, spirituelle Erfahrungen zu sammeln. Für sie war Quellwasser das Blut der Erde aus dem Schoß der Erdmutter. Die christliche Kirche versuchte zunächst mit drastischen Methoden, den Quellenkult zu bekämpfen. Weil dies nicht gelang, vereinnahmten sie diese heiligen Orte für sich und begannen dort Kirchen, Kapellen oder Marienstatuen zu errichten. Wie lebendig der Quellenkult immer noch ist, das belegt die Quelle bei der „Irlmaier-Madonna“ in der Almbachklamm. Einer Eingebung folgend fand der Berchtesgadener Zahnarzt Eugen Köberle Mitte der 1970er Jahre in der Almbachklamm eine Quelle. Wenige Jahre später ließ ein Freund Köberles in einem technisch komplizierten Kraftakt mit Hilfe einer Seilbahn eine 800 kg schwere Madonna dorthin schaffen. Seither nehmen viele Menschen den 1stündigen Fußmarsch zur „Irlmaier Madonna“ auf sich und zapfen sich das konstant acht Grad kühle Wasser ab. Es soll besonders bei Herz-Kreislauf-Beschwerden und Depressionen helfen. Hagen Böhnisch, den Mann, der die Madonna aufstellte, hat die Arbeit an der Quelle jedenfalls von seiner Herzkrankheit geheilt.

Erde: Die Verbindung mit der Ur-Mutter
Von Steinhaufen, Steinkreisen oder Menhiren bis hin zu Spaltfelsen, bei denen sich so genannte „Durchkriech“-Bräuche entwickelten: Es gibt im Alpenraum vielerlei Rituale, die sich speziell des Elements Erde annehmen. Zu den stärksten Ritualen in der dunklen Jahreszeit gehört es laut Rainer Limpöck, sich in die Erde hineinzubegeben. Am 2. Februar beispielsweise – dem katholischen Lichtmess beziehungsweise dem keltischen Imbolc – trifft sich Limpöck mit Gleichgesinnten in der altbekannten Kreissenhöhle bei Reichenhall. Dort werden die kollektiven Kerzenreste von Weihnachten angezündet, es wird getrommelt und so manch einer soll dabei auch in Trance geraten. Damit wird es den Teilnehmern möglich, sich „wieder mit der Erde zu verbinden“. Eine Erdung, die oftmals bei Großstadtmenschen zu kurz kommt: In Hochhäusern, in U-Bahnen, im Auto oder in Flugzeugen ist von der Erde nicht mehr viel zu spüren. Wie wichtig die Signale der Erde (die so genannten Schumann-Frequenzen) für das Wohlbefinden der Menschen sind, erfuhren die ersten Astronauten am eigenen Leib: Sie mussten nach der Rückkehr zur Erde aus ihrem Raumschiff herausgetragen werden. Seither schafft die Nasa Abhilfe, indem sie die Astronauten mit einem kleinen Frequenzgeber ausstattet, der exakt die 7,83 Hertz der Schumann-Frequenzen imitiert.

Räuchern: Die Synthese der vier Elemente
Es gibt kein anderes Ritual, das die vier Elemente in gleicher Weise vereint, wie das Räuchern. Man braucht dafür Kohle (= Erde), es funktioniert nur mit Feuer und Luft und dabei freigesetzt wird Wasser in Form von Dampf. Vielleicht ist es diese Synthese der vier Elemente, die das Räuchern zu einem der beliebtesten und am häufigsten angewandten Ritual macht: Man kann es immer und überall einsetzen und eine wachsende Literatur hilft dem unerfahrenen Anwender dabei, es möglichst nutzbringend durchzuführen. Durch die Kunst des Wohnungsräucherns lässt sich jedes Zuhause in einen Ort verwandeln, wie man ihn sich wünscht. In ein gemütliches Nest, in einen Mittelpunkt gesellschaftlichen Lebens oder in eine Quelle der Inspiration. Durch das Räuchern lassen sich Räume von unerwünschten Energien befreien – was die Bauern in ihren Höfen traditionell in den Rauhnächten zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar taten. Beim Räuchern werden besondere Harze und Pflanzenteile langsam auf einer Räucherkohle verbrannt. „Der aufsteigende Rauch galt bei vielen Völkern jahrtausendelang als eine Botschaft an den Himmel“, so zieht die Buchautorin Susanne Fischer-Rizzi das Fazit.

Feuer: Reinigung und Neubeginn
Ob in Irland oder im Alpenraum: In den ehemaligen Keltengebieten wurde die reinigende und verwandelnde Kraft des Feuers bis vor wenigen Jahrzehnten tausendfach eingesetzt. Vor allem zur Zeit der Sommersonnwende entzündete die bäuerliche Bevölkerung lange Zeit so genannte Johannisfeuer. Das, was von diesen Feuern übrig blieb, streuen die Bauern dann als „geweihte, gesegnete Asche“, so Limpöck, aufs Feld. Der tiefere Sinn besteht darin, das Alte mit neuem Leben zu füllen und das Bedürfnis nach derartigen Feuerritualen macht sich durch das erneute Aufflammen dieses Kultes bemerkbar. Ob auf dem Hochfelln oder auf dem Rauschberg, dem Untersberg oder dem Johannishögl, unweit von Salzburg: Gerade in jüngster Zeit brennen zur Sonnwendzeit wieder hunderte von Feuern auf den Berggipfeln. „Es bewegt sich was“ freut sich Rainer Limpöck. „Mit unserem Ansatz, alte Rituale neu zu beleben, haben wir den Zeitgeist und ein verändertes Bewusstsein für die Erde erfasst.“ Und ständig werden die alten Rituale in neuen Manifestationen gefeiert. So gibt es am oberbayerischen Johannishögl mittlerweile nicht nur zum sommerlichen Johannis ein großes Feuer, sondern auch zur Wintersonnwende.

Luft: Die Befreiung vom Alltag
„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein“. Wer nicht, wie der Sänger Reinhard Mey, die befreiende Wirkung des Elements Luft im Sportflugzeug erfahren kann oder möchte, dem sei die Begegnung auf Berggipfeln empfohlen. Nicht ohne Grund werden Berggipfel von vielen Menschen als heilige Orte gesehen, an denen es besonders leicht fällt, sich über den Alltag zu erheben: Die kühle Brise, die den Wanderer schnell schaudern lässt, das elegante Gleiten der Bergdohlen auf den Luft-Schichten, die Frische der Luft, die tief in der Lunge zu spüren ist und zu geschärfter Wahrnehmung führt. – All diese Empfindungen und Beobachtungen zeigen die Vielschichtigkeit dieses Elements – das wir im Alltag nur allzu oft als dicke, abgestandene Luft kennen. Der Berg(gipfel), der unter spirituell Interessierten derzeit besondere Aufmerksamkeit erfährt, ist der oberbayerische Untersberg. Er soll ein Energieträger der besonderen Art sein, der sogar Zeitphänomene wie „die andere Zeit“ möglich macht. Diese sollen sich bei Betroffenen durch Zeitverluste äußern, die von moderat (30 Minuten) bis extrem (100 Jahre) reichen sollen. Die Sage von der verschwundenen Hochzeitgesellschaft berichtet davon.

Foto: Perschtenbund Soj Kirchseeon

QC10L01

 

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www.perchten-kirchseeon.de

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www.alpenschamanismus.de

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www.untersberg.org

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