Portrait-Elsemarie Maletzke

 Garten-Kolumne von Elsemarie Maletzke

 

Ein junger Gartenschläfer aus der Familie der Bilche war aus dem Nest im Dach abgestürzt. Vielleicht hatte ihn auch die Katze in der Mangel gehabt und dann das Interesse an ihm verloren. Da lag er unter dem Weinstock, und erst als ich ihn mit der Schaufel hochnehmen und im Komposthaufen beerdigen wollte, zeigte er, dass er noch lebte, indem er versuchte, auf den Vorderpfoten in Deckung unter die Malven zu robben und dabei seine bleistiftdünnen rosa Hinterbeine nachzog. Junge Bilche sind recht niedlich mit einer kleinen Zorromaske um die Augen, großen Lauschern, einer spitzen Nase und einem Puschel am Schwanzende. Aber aus jungen werden räuberische alte Bilche, fette Knilche, die durchs Dach rumoren und sich im Herbst, wenn die Trauben reif sind, in meinem Weinstock jede Nacht einen anzwitschern.
Mein Garten liegt offen zwischen Wald und Wiese und viele Tiere bedienen sich darin, als sei er ein gratis Buffet mit all you can eat. Wühlmäuse nehmen die Witterung meiner Tulpenzwiebeln kilometerweit auf. Rehe knabbern die Rosenknospen ab. Hornissen ernten die Himbeeren. Ich bin in der Wahl der Gegenmittel nicht zimperlich: Wühlmäusen stecke ich Silvesterkracher in die Gänge, Schnecken sind sofort des Todes. Aber es macht doch einen Unterschied, wenn das potentielle Opfer schon angeschlagen auf der Erde liegt. Auge in Auge stellt es den Gärtner vor philosophische Probleme, die mit seiner Rolle im Weltgefüge zu tun haben. Also kehrte ich nach einer Weile zur Unfallstelle zurück und beobachtete die wachsende Munterkeit des Tiers, das seinem Fluchtreflex nicht folgen konnte, den vorgelegten Apfelschnitz gleichwohl mit großem Appetit fraß. Später zog ich den Korbstuhl heran und bewachte den Patienten dauerhaft, im Fall, dass sich die Katze seiner erinnerte. Ich fotografierte den Versehrten und stellte sein Bild online in ein Garten-forum, um mit Experten den Fall eines jungen Bilchs mit zwei gebrochenen Hinterläufen zu besprechen.
Der erste meldete sich nach zehn Minuten: „Tierarzt aufsuchen.“ Dem folgte ein zwinkerndes Smiley von Lilifee37: „ach, wie süüüüß, pass gut auf ihn auf!“ Zielführender äußerte sich deadly_nightshade: „Leiden abkürzen, Backstein auf den Kopf.“ Guter Rat billich. Abends setzte ich den Gartenschläfer mit einem Büschel Heu und drei Rosinen in einen Eimer und hängte ihn unter die Schuppendecke. Am nächsten Morgen hatte sich die Sache erledigt und ich hob ein kleines Loch im Kompost aus. Alles muss man selbst machen, auch das Sterben.

Fotos: Birgit Bielefeld | Monika Frei-Herrmann
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