Quell-Reiseexpertin Martina Guthmann hat sich von der ältesten Großkabinenbahn der Welt in eine zauberhafte Bergwelt entführen lassen und dabei entschleunigende Bekanntschaften gemacht.

Bad Reichenhall, Bergbahn zum Predigtstuhl:  Keine Magnet-Karte und keine Lichtschranke! Da steht ein Mensch und reißt meine Karte ein.  Mehr als 25 Leute passen nicht rein in die älteste original erhaltene Großkabinenbahn der Welt, die unter technischem Denkmalschutz steht.  Kaum zuckelt die Seilbahn los, begrüßt uns der Schaffner  persönlich und dieser Blickkontakt zu seinen Passagieren für die nächsten 8,5 Minuten fühlt sich so überhaupt nicht nach Routine an. Er zieht eine Mundharmonika aus der Tasche – und spielt einen Ländler. Mein  Pulsschlag passt sich dem gemütlichen Tempo der Bahn an und ich werde nachdenklich, denn diese Bahn galt wegen ihrer Geschwindigkeit in der 1920er Jahren als Revolution, mit der man damals alle Register der Technik zog, um mit der Schweiz mithalten zu können. Zur Herausforderung der Planer,  Investoren und Ingenieure gehörte auch die Festlegung der Trassenlegung: Mit Hilfe neuester Luftfotometrie suchte man im steilen Felsengelände nach der Position für die drei Stützpfosten der Bahn. Unter extrem harten Bedingungen begannen die Arbeiter 1927 dann zunächst mit dem Bau einer Hilfsbahn als Lastenaufzug. Für die eigentliche Bahn, die – vorwiegend privat finanziert – 90.000 Mark kosten sollte, wurden 5 cm dicke. 2.375 m lange und 67.500 Kg schwere Tragseile hergestellt. Zwei Viertakt-Dieselmotoren verrichten seit über 86 Jahren ihren treuen Antriebsdienst. Und das original erhaltene knallrote achteckige Pavillon-Gondel-Paar, das bei seiner Einweihung am 1. Juli 1928  eine wahre Sensation war, und das sich auf halber Strecke begegnet, ist auch heute noch eine Augenweide vor der malerischen Landschaftskulisse.

Je kleiner die Salinenstadt im Tal wird,  umso mehr weitet sich der Blick auf die Landschaft  und die umliegenden Alpentäler. Die Endstation der Bahn führt seit jeher die Ausflügler direkt  ins Aussichtsrestaurant: In dem lichtdurchfluteten, um die Ecke gebauten Wintergarten gibt es eigentlich nur beste Plätze und ich kann mich allenfalls für meinen momentanen Lieblingsplatz entscheiden.  Obwohl ich eigentlich noch keinen wirklichen Hunger habe – ich bin ja nicht hochmarschiert – habe ich den Impuls, erst einmal Aussicht und bayrische Küche auf mich wirken zu lassen.  „Fahrt mir mit der Bahn und vergesst Euer Picknick “ – dieser Aufruf der Investorin Margot Posch klingt mir im Ohr, denn die Kosten für die Restaurierung und den Erhalt von Bahn und Hotelrestaurant gehen in die Millionen. So ist  es auch ein liebevolles Plädoyer an das Erinnern,  dass die Poschs sich jetzt auch noch um die Renovierung der Hotelzimmer von Deutschlands höchstgelegenstem Hotel bemühen.

Spazierweg zur Schlegelmulde
Nachdem ich Aussicht, Sonne, Luft und bayerische Gastlichkeit tief in mich eingesaugt habe, mache ich mich von der Bergstation aus auf den Weg zur Schlegelmulde – es ist ein gemütlicher Höhenweg mit immer wieder neuen Ausblicken ins Tal. Auf der Hütte wird bayrisches Brauchtum groß geschrieben – dazu gehört auch bayrische Musik und das passt in diese Bilderbuchlandschaft ganz wunderbar. Weil mir dann aber doch noch nach mehr Ruhe ist, wandere  ich ein Stück bergauf bis zum Gipfelkreuz des Hochschlegel – absolutes Kontrastprogram – gerade mal 74 Höhenmeter über der quirligen Hütte:  himmlische Ruhe, wie man sie selbst auf dem Berg selten erlebt – abseits von winterlichem Skicircus und ambitioniertem Wander- und Bergsteigergebieten.

Zeit zum Zuhören
Zurück an der Schlegelmulde komme ich mit einer alten Dame ins  Gespräch. Während wir gemeinsam zur Bergstation zurückgehen, erinnert sie sich, wie ihr Herz schlug, als sie das erste Mal auf den Predigtstuhl fuhr in dieser sensationell  lautlosen und schnellen Bahn und wie mondän sie sich gefühlt habe, für 5 Mark  in dem 12-eckigen Salon-Pavillon der Kabine  fahren zu dürfen, wie viele persönliche Erlebnisse sie mit der Bahn verbinde und wie oft ihr der Berg auch Kraft und Trost geschenkt habe. Dann erzählt sie von ihren Eltern, ihrem Mann, ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln, von Freude und Schmerz, von Lust und Last, von Trauer, Mitgefühl, von Mut und von der Kraft, die ihr die Liebe zur Natur in allen kritischen Phasen ihres Lebens gegeben hat. Während des gemütlichen Spaziergangs und der gemächlichen Bahnfahrt fällt mir das Zuhören leicht – aber  wie oft bleibt dafür wirklich noch Zeit? Und wie viel Geschichten und Erinnerungen sind vergänglich, wenn wir den Wissensschatz  und die Lebensweisheit solcher Menschen nicht in uns aufsaugen, wann immer die Gelegenheit besteht?

Für die Bergbahn und das Restaurant hat sich ein mutiger Investor gefunden… Doch wie ist das mit Menschen, die Spuren hinterlassen möchten? Mir fällt die „Bank der Erinnerungen“ ein, www.memoro.org und ich ermutige die alte Dame,  auf dieser Plattform ihre Geschichten und Erinnerungen als Zeitzeugin verewigen zu lassen.

Für mich entschleunigt der Predigtstuhl wie kein anderer Berg und macht so sensibel für wesentliche Dinge im Lauf der Zeit .