„Über das eine gebieten wir, über das andere nicht.“

Dieses Zitat stammt aus Epiktets „Encheiridion“ (Handbüchlein), das die Grundzüge seiner praktischen Lebensphilosophie sowie deren konkrete Anwendungen in Form von Verhaltensregeln in bestimmten Situationen wiedergibt. Diese kleine Schrift ist eine Anleitung „zur Sorge um sich“, die auch ihren Weg in die moderne Philosophie und Psychologie gefunden hat. Der Freigelassene, ehemalige Sklave Epiktet (50-138 n. Chr.) gehört mit Seneca und dem römischen Kaiser Marc Aurel zu den wichtigsten Vertretern der späten römischen Stoa. Philosophieren ist für ihn keine Theorie, sondern eine praktische, gelebte Tätigkeit, ein innerlich freies Leben in unerschütterlicher stoischer Ruhe angesichts äußerer Umstände, die wir nicht ändern können. Philosophie ist für ihn die einzig wahre Lebensform, wie auch der Begriff der Freiheit Mittelpunkt seiner Überlegungen ist. Diese stoische Gelassenheit, diese innere Freiheit, ist zweifellos ein Idealzustand, der zwar erstrebenswert, aber unerreichbar zu sein scheint. Über alles, was von uns ausgeht, unserem Handeln, Begehren und Meiden gebieten wir selbst und können dieses beeinflussen. Über alles, was nicht von uns ausgeht, worauf wir keinen Einfluss haben, gebieten wir nicht. Darunter zählen z.B. Besitz, Prestige, Macht, aber auch der menschliche Körper. Wie leicht vergisst man, dass man auf die Gesundheit oder den Erhalt des Arbeitsplatzes nur bedingten Einfluss hat. Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei und kann nicht gehindert oder gehemmt werden. Worüber wir nicht gebieten, steht unter fremdem Einfluss, ist modern ausgedrückt, fremdbestimmt. Ziel ist es, den Unterschied zwischen Eigenbestimmung und Fremdbestimmung zu erkennen und eine innere Distanz zu den Dingen, die wir nicht ändern können, auf die wir keinen Einfluss haben, zu entwickeln. Über etwas, worüber wir nicht gebieten können, sollen wir die Antwort zur Hand haben: „ es geht mich nichts an.“ Dies bedeutet, dass es mir nichts anhaben, meine Laune nicht verderben kann. Wir können zwar die Fremdbestimmung nicht vermeiden, wir können aber versuchen, eine innere Distanz zu entwickeln, damit wir nicht darunter leiden. Gelingt dies, „wird dir niemand schaden, denn du kannst überhaupt keinen Schaden erleiden.“ Gelingt es aber nicht, wird man „die Fassung verlieren und mit Gott und der Welt hadern“. Um dieses hohe Ziel zu erreichen, reicht nicht nur ein bloßes Bemühen, es ist vielmehr eine Lebenshaltung, man muss auf manches verzichten, vieles vorläufig aufschieben und sich ständig über sich selbst reflektieren. In dieser kleinen Schrift gibt Epiktet ganz konkrete Ratschläge, die alle auf Mäßigung, Zurückhaltung und Selbstreflexion zielen und vor übermäßigem Luxus, Selbstdarstellung, Prahlerei und einem ausschweifendem Lebensstil warnen. Epiktet wurde von keinem Geringeren als Goethe außerordentlich geschätzt, der ihn „ mit viel Teilnahme studierte“.

Von Helga Ranis

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