Sören Kierkegaard (1831-1855) gehört zu den maßgeblichen Philosophen des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt seines Denkens steht der einzelne Mensch und sein Verhältnis zu Gott. Seine Ausgangsfrage ist, wie der Einzelne als existierendes Subjekt in ein Verhältnis zu Gott kommen kann, oder, wie Luther es formuliert hat: „Was muss ich tun, um einen gnädigen Gott zu bekommen?“ Kierkegaard beantwortet die Frage damit, dass der Mensch erst über sich selbst im Klaren sein muss, er muss sich zu sich selbst verhalten, er muss eine Meinung zu sich selbst haben. In der Existenz des Menschen findet sich die Dialektik von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit. Aufgabe und Bestimmung des Menschen ist es, zu sich selbst zu finden. Darin ist natürlich auch die Möglichkeit enthalten, dass der Mensch zu sich selbst im Missverhältnis steht und sein Selbst unbewusst oder bewusst verfehlt.  Kierkegaard gebraucht hierfür den Begriff der Verzweiflung. Der Mensch verzweifelt, weil er nicht er selbst sein will.  Da der Mensch sich aber nicht selbst geschaffen hat, sondern von Gott ist, ist dieses Missverhältnis zu sich selbst, die Verzweiflung über sich selbst, gleichzeitig ein Missverhältnis gegenüber Gott und das bezeichnet Kierkegaard als Sünde. Sünde ist, vor Gott nicht man selbst sein zu wollen. In dieser Situation befindet sich der moderne Mensch. Er ist ein innerlich zerrissenes Wesen in einer fragmentierten Welt, das den Bezug zu sich selbst und Gott verloren hat. Es kann ihm aber gelingen, diese Zerrissenheit zu überwinden und sich selbst gegenwärtig zu werden. Hierzu muss er sich aber seines Zustandes bewusst sein. Für Kierkegaard ist der Glauben der einzige Weg, um sich selbst gegenwärtig zu werden, um sich selbst zu finden. Dies ist jedoch ein langer Weg, der sich in drei Stadien aufteilt. Im ersten Stadium, dem Ästhetischem lebt der Mensch in der Unmittelbarkeit. Für ihn gilt nur das Hier und Jetzt, er lebt im und vom Äußerlichen, Sinnlichen. In dieser Lebensform ist er vom Äußerlichen, d.h. von dem, was er nicht beeinflussen kann, was nicht in seiner Macht steht, abhängig. Ihm ist bewusst, dass ihm diese Bedingungen genommen werden können, worüber er verzweifelt. In dieser Verzweiflung versucht er im Idealfall den Sprung in das Ethische Stadium. Wenn ihm das gelingt, kann er zwischen Gut und Böse unterscheiden und er wird von Äußerlichkeiten unabhängig. Dennoch kann der Mensch sich in diesem Stadium nicht vollenden, denn in der Möglichkeit der Schuld, erkennt er, dass es ihm nicht immer möglich ist, ethisch ideal zu leben, weil er Sünder ist, worüber er wieder verzweifelt. Diese Verzweiflung führt zum dritten, dem Religiösen Stadium. Hier erkennt sich der Mensch als Sünder und begreift, dass er sich nicht allein aus der Sünde befreien kann, sondern dass er dazu Gottes Hilfe bedarf. Im Glauben weiß der Mensch sich vorbehaltlos in Gott aufgehoben, er hat die Zerrissenheit überwunden, er ist sich selbst gegenwärtig und somit ist ihm auch Gott gegenwärtig. Von Helga Ranis.

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