Möbel, die an Spalieren wachsen wie Rosen oder Äpfel? Das klingt erst einmal verrückt, fußt aber auf uralter Gärtnerkunst. Die Biologin Jennifer Dietel will mit der Tradition eine nachhaltige Produktion aufbauen. Quell-Reporterin Christine Mattauch hat sie in Dasing besucht.

Der Prototyp hängt bei Jennifer Dietel auf der Terrasse: einen halben Meter groß, markantes Spiralmuster, gewachsen aus Weidenholz. Ein Lampenschirm. Und ein Beweis. Viele Leute reagieren ungläubig, wenn sie von ihrem Projekt erzählt: Möbel, die auf Plantagen wachsen? Die man erntet wie Kürbisse oder Zucchini? Geht’s noch, junge Frau? „Man wird viel ausgelacht. Das muss man aushalten“, sagt Dietel. Jennifer Dietel ist Biologin. 28 Jahre und zierlich, große grüne Augen hinter einer schwarzweißen Brille. Ausgestattet mit einer natürlichen Autorität, wie sie Fachwissen häufig verleiht, überzeugt sie Skeptiker in wenigen Minuten von den Vorzügen ihres Projekts. Sie erzählt von lebenden Pergolas in Klostergärten und von Brücken aus Baumwurzeln, die das Khasi-Volk im indischen Bundesstaat Meghalay anlegt. Warum also soll es nicht gelingen, entlang spezieller Spaliere Stühle, Lampenschirme und Spiegelrahmen wachsen zu lassen? Dietel jedenfalls, die in der 6.000-Einwohner-Gemeinde Dasing bei Augsburg lebt, findet die Idee einfach nur logisch. Was für ein Aufwand, Bäume jahrzehnte- lang wachsen zu lassen, sie dann zu fällen, in eine Fabrik zu transportieren, auseinanderzuschneiden und wieder zusammenzusetzen. Ganz abgesehen von den Schäden, die Monokulturen im Ökosystem anrichten. Wie viel einfacher und umwelt- freundlicher, wenn sie gleich in die gewünschte Form wachsen, in dem Tempo, das die Natur vorgibt. Es gibt keine Abfälle und nur einen Transport, den zum Kunden. Der CO2-Bedarf eines gewachsenen Stuhls liege bei 20 Prozent von dem eines konventio- nellen, schätzt Dietel.

In Reih und Glied: Alternative Stuhlproduktion im britischen Derbyshire

Vor eineinhalb Jahren hatte sie im Fernsehen zufällig eine Dokumentation über den britischen Designer und Künstler Gavin Munro gesehen. Der experimentierte auf einem ein Hektar großen Acker in der Grafschaft Derbyshire mit lebenden Stühlen und Lampenschirmen. Dietel war begeistert: „Nach so etwas hatte ich gesucht.“ Zwar arbeitete sie an der Universität Ulm und schrieb an ihrer Doktorarbeit, wollte sich jedoch nicht von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag hangeln, wie es für Nachwuchswissenschaftler heute üblich geworden ist. In Full Grown sah sie eine ideale Mischung aus Theorie, Praxis und Sinnstiftung. Für Munro und seine Frau wiederum ist Dietel durch ihre fachliche Expertise die ideale Ergänzung. Sie vermaß das Gelände in Derbyshire, prüfte den Lichteinfall, nahm Bodenproben, legte eine Datenbank an. „Es geht ja auch darum, dass wir uns kontinuierlich verbessern.“ Im Frühjahr 2016 wurden die ersten Prototypen geerntet. Dietel stieg bei Full Grown als Gesellschafterin ein. Sie hat große Pläne: Eine Muttergesellschaft soll es geben, die weltweit Lizenzen vergibt – für wenig Geld, denn die Full-Grown-Gründer wollen ihre Idee möglichst weit verbreiten. „Das Schöne ist ja, dass das Prinzip überall funktioniert, wo Bäume wachsen, also auch in ärmeren Gegenden“, sagt Dietel. Als Akademikerin, die nie mit Betriebswirtschaft in Berührung kam, hat sie einigen Respekt vor der ökonomischen Dimension der Unternehmung: „Schwieriger als jedes wissenschaftliche Pilotprojekt.“ Immerhin, vor einigen Monaten erreichte sie beim Businessplan-Wettbewerb des Biocampus Straubing das Finale. Und eine Kickstarter-Kampagne brachte 26.679 britische Pfund, fast dreimal so viel wie angestrebt. Das zeigt, wie groß die Begeisterung ist, wenn die Menschen ihre Skepsis überwunden haben. Wenn Dietel diesen Sommer ihre Dissertation abgeschlossen haben wird, will sie in Deutschland loslegen. Die erste – und vielleicht größte – Herausforderung wird sein, ein Grundstück zu finden. „Die schwäbischen Bauern sind konservativ“, weiß sie. Lässt es sich überhaupt verantworten, Land für den Möbelanbau zu nutzen? Auch Flächen sind schließlich eine knappe Ressource. Dietel lässt das nicht gelten. „Wir gießen nicht, wir spritzen nicht, wir nutzen nur heimische Hölzer. Es ist wie ein kleiner Wald, der auch Lebensraum für Tiere bietet.“ Zudem könnten, während die Bäume wachsen, Obst und Nüsse geerntet werden – eine kombinierte Möbel- und Obstplantage, sozusagen. Die Plantagen-Möbel sind teuer, doch das sind konventionelle Designerstücke auch. Deshalb macht sich Dietel keine Sorgen über mangelnde Nachfrage. Ihre Zielgruppe definiert sie als „sehr bewusst lebende Menschen, die Individualität suchen und denen Nachhaltigkeit wichtig ist“. Die Erfahrungen in Derbyshire zeigen: Wie bei einem Pferd oder einem Huhn, für die man eine Patenschaft übernimmt, wollen Auftraggeber „ihren“ Baum besuchen und wachsen sehen. Deshalb sollte der Anbau in der Nähe von Ballungsräumen geschehen, meint Dietel. Jedenfalls so lange ein Plantagenstuhl noch etwas Besonderes ist.

Bald ist Erntezeit. Dann werden die Möbel an
der Wurzel abgesägt und ein Jahr getrocknet.

Die Äste werden um vorgefertigte Formen gebunden
und in der Wachstumsrichtung bestimmt.

Alternative Produktion:
Je nach Holzart und gewünschter Form wächst ein Stuhl etwa zwei bis fünf Jahre. Nach einer Ernte erhalten die Bäume zwei Jahre „Ruhezeit“, bevor erneut mit der Produktion begonnen wird. Geeignet sind Nuss- und Obstgehölze, aber auch Weiden, Buchen und Ahorn. Die Preise für einen fertigen Stuhl beginnen bei 1.000 Euro, die für einen Lampenschirm bei 200 Euro.

 www.fullgrown.de

Quelle Fotos: fullgrown

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