Die Kirchen werden immer leerer, aber die Suche nach Spiritualität ist lebendig wie nie zuvor. Je mehr die Welt durch Technik und Fortschritt entzaubert wird, umso mehr schleicht sich die religiöse Fragestellung wieder ins Leben des postmodernen Menschen. Durch die Hintertür sozusagen. Das erfahre ich tagtäglich an einem Ort, an dem man dies sicherlich nicht erwarten würde, nämlich mitten in der City von Frankfurt am Main. Da, wo alles nach Geld und Umsatz riecht – und wo einem zugleich in den Armen und Obdachlosen die Kehrseite des Ganzen begegnet. Gerade hier ist die Suche nach Spiritualität und Religion größer als man denkt.

Oase der Stille

Mitten in der Fußgängerzone (zwischen Römer und Zeil, zwischen dem Frankfurter Rathaus und der umsatzstärksten Meile Deutschlands, zwischen Geschäften wie Esprit und Burger King) steht die  Liebfrauenkirche. Seit 1321 eine beliebte „Volkskirche“ im Herzen der Stadt. Seit 100 Jahren wird sie vom franziskanischen Orden der Kapuziner betreut, die gemeinsam mit über 300 Ehrenamtlichen diesen außergewöhnlichen Ort bespielen.

Überkonfessionelle Anlaufstelle

Verschiedenste Menschen treffen bei uns zusammen: Von den Gästen der Armenspeisung bis zum Bankangestellten im Beichtstuhl. Vom „religiös Unmusikalischen“ bis zu den franziskanischen Ordensbrüdern. Vom typischen Frankfurter bis zu Menschen aus aller Welt. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung dieser Stadt sind Menschen mit Migrations- hintergrund. Und mitten in diesem quirligen Meltingpot ist die Liebfrauenkirche mit ihrem stillen Innenhof seit fast 700 Jahren eine Oase der Stille. Wir sind aber nicht nur Ort der Stille, sondern auch ein Ort für Gottesdienst und Seelsorge. Ein Ort, an dem sich zahlreiche Gruppierungen und Initiativen treffen. Ein Ort, an dem die Kirchenmusik auf vielfältige Weise erklingt. Und nicht zuletzt ein Ort für die Armen. Bis zu 200 Menschen in Wohnungsnot werden hier täglich durch Frühstück und Sozialberatung unterstützt. Auf den ersten Blick ist Liebfrauen „gut katholisch“. Hier gibt es jeden Tag drei Mess- feiern, sonntags sogar sechs. Hier wird gebeichtet und eucharistische Anbetung gehalten. Es wird Rosenkranz gebetet und an der Klosterpforte kann man eine Heilige Messe bestellen. Aber zugleich sind wir Anlaufstelle für Menschen aller Konfessionen und Religionen: Im stillen Innenhof zwischen Kirche und Kloster werden täglich um die 1.800 Kerzen angezündet. Wer die Szenerie ein wenig beobachtet, der stellt schnell fest: Zu uns kommen fromme Katholiken, aber auch zahllose Menschen, die offensichtlich mit Kirche und Religion sonst weniger am Hut haben. Man sieht Arme und Reiche, Junge und Alte, Bänker und Obdachlose. Und nicht selten kommen auch buddhistische Mönche oder verschleierte muslimische Frauen, um hier zum Gebet zu verweilen.

Fußspuren Gottes

Seit den 1990er Jahren sprechen wir hier von „City-Seelsorge“. Wir versuchen an diesem Ort größter Säkularität Fußspuren Gottes zu entdecken. Und die entdecken wir hier jeden Tag. Vor allem in den Menschen, die zu uns kommen. In der postmodernen Gesellschaft, die immer mehr von säkularen und funktionalen Räumen bestimmt wird, braucht der Mensch Orte, in denen er etwas von „jener anderen Wirklichkeit“ spürt. Mich persönlich wundert es nicht, dass der postmoderne Mensch wieder neu nach Spiritualität fragt. In gewisser Weise sind wir mehr denn je mit den grundlegenden Fragen unseres Lebens konfrontiert: Was ist die Berechtigung meiner Existenz jenseits von Leistung und Erfolg? Was ist der Sinn meines Lebens, wenn ich am Ende doch austauschbar bin? Wie kann ich meinem Leben einen Sinn geben? Wie gehe ich mit den Brüchen in meinem Beruf und im Privatleben um? Wenn auf der einen Seite der institutionalisierte kirchliche Glaube am Ende zu sein scheint, auf der anderen Seite aber Transzendenzbedarf, Wertenotstand und eine neue Nachfrage nach Spiritualität besteht – dann hätten die Kirchen eigentlich jeden Tag alle Hände voll zu tun. Wir können uns über Arbeit jedenfalls nicht beklagen. Von Voltaire stammt der Satz: „Die Menschen suchen ihr Glück, ohne zu wissen, auf welche Art sie es finden können – so wie Betrunkene ihr Haus suchen, im unklaren Bewusstsein, eins zu haben.“ Wer diesem Phänomen nachgehen will, der darf uns gerne besuchen.

www.liebfrauen.net

Kapuziner – Der engagierte Orden
Die Kapuziner (OFMCap), eigentlich Orden der Minderen Brüder Kapuziner, lateinisch Ordo Fratrum Minorum Capucinorum, sind ein Orden in der römisch-katholischen Kirche. Der Name leitet sich von der markanten Kapuze des Franziskanerhabits ab. Er gehört zu den franziskanischen Orden und bildet heute – neben den Franziskanern und den Minoriten – einen der drei großen Zweige des so genannten Ersten  Ordens des hl. Franziskus. In der Vergangenheit zeichneten sich die Kapuziner einerseits durch eine besondere Liebe zur Stille und zum Gebet aus, andererseits durch die Nähe zum einfachen Volk und zu den Armen. Dies drückt sich in der heutigen Kapuzinergemeinschaft unter anderem durch ein aktives Engagement in der Sonder- und Randgruppen- seelsorge und in sozial-pastoralen Projekten (Obdachlosenarbeit) aus.

Der Autor:

Christophorus Goedereis, OFMCap
wurde am Rosenmontag 1965 im niedersächsischen Nordhorn geboren. Er trat nach dem Abitur in den Kapuzinerorden ein und studierte Philosophie und Theologie in Münster und Rom. Nach Abschluss des Studiums arbeitete Bruder Christophorus als Referent in der Erwachsenenbildung, als Kaplan und Jugendseelsorger, später als Pfarrer in Offenburg und Frankfurt. Von 2004 bis 2013 leitete er als  Provinzialminister die Deutsche Kapuzinerprovinz. Seit Anfang 2014 ist Bruder Christophorus Kirchenrektor der Liebfrauenkirche und Leiter der Citypastoral an Liebfrauen.

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Quelle Foto: Liebfrauen, Sven Moschitz